Ein zentrales Beispiel für diese dunkle Seite ist die übermäßige Standardisierung. Standardisierung gilt in Lean als eines der Grundelemente, weil sie Stabilität schafft und Prozesse wiederholbar macht. Doch wenn Standardisierung zum Selbstzweck wird, anstatt dem eigentlichen Ziel zu dienen, kann daraus eine ungesunde Starrheit entstehen. In solchen Fällen wird das Arbeiten außerhalb der Standards nicht mehr als Gelegenheit zur Verbesserung betrachtet, sondern als Fehler. Mitarbeitende sind gezwungen, sich strikt an die Vorgaben zu halten, selbst wenn sie sehen, dass sie dem Kunden nicht optimal dienen. Diese Überregulierung nimmt ihnen die Freiheit, in einer Situation angemessen zu reagieren und den Prozess kundenorientiert anzupassen. Statt kreativen Freiraums und Motivation führt ein solches System zu Frustration und Resignation, weil die eigentliche Problemlösung in den Hintergrund rückt.
Ein weiteres Beispiel zeigt sich im Bereich der Kennzahlen. Lean nutzt Kennzahlen, um Fortschritte zu messen und Optimierungen sichtbar zu machen. Doch wenn Kennzahlen missbraucht oder einseitig eingesetzt werden, können sie zur Falle werden. Indem sich der Fokus allein auf bestimmte Kennzahlen verengt, geraten wesentliche Aspekte des Kundenwertes aus dem Blick. In solchen Fällen wird beispielsweise die Produktivität einer Abteilung stark betont, ohne Rücksicht auf die Qualität der Ergebnisse oder die Zufriedenheit der Kunden. Der Druck, bestimmte Kennzahlen zu erfüllen, kann die Mitarbeitenden in eine Haltung des bloßen “Abhakens” bringen – das Produkt wird nur so schnell wie möglich fertiggestellt, ohne dass der tatsächliche Nutzen oder die Qualität im Vordergrund stehen. In extremen Fällen werden Daten sogar manipuliert oder so angepasst, dass sie eine gute Leistung suggerieren, während in der Realität die Prozesse stagnieren oder sich sogar verschlechtern. Ein System, das ursprünglich auf Transparenz und Offenheit ausgelegt war, verliert seine Glaubwürdigkeit und kann kaum noch als Werkzeug der kontinuierlichen Verbesserung dienen.
– Heinrich Heine
Ebenfalls problematisch ist die Kommunikation. Ein gesundes Lean-Umfeld lebt von einer offenen Fehlerkultur, die Mitarbeitenden die Möglichkeit gibt, auf Herausforderungen hinzuweisen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Doch in einer Umgebung, in der Lean nur oberflächlich angewandt wird, entwickelt sich stattdessen eine Kultur des Schweigens. Kritik wird als Widerstand oder als Bedrohung der bestehenden Strukturen wahrgenommen. Mitarbeitende lernen schnell, dass sie sich besser zurückhalten, um nicht als „schwierig“ zu gelten. So entstehen Kommunikationsbarrieren, die Probleme verdecken und die Umsetzung tatsächlicher Verbesserungen verhindern. Eine solche Unternehmenskultur hat langfristig schwerwiegende Konsequenzen: Die Mitarbeiterzufriedenheit sinkt, das Engagement wird geringer und die Fluktuation steigt. Verbesserungspotenziale bleiben ungenutzt, weil niemand es wagt, sie anzusprechen.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die versteckte Kontrolle. Ein Kernelement von Lean ist das Vertrauen in die Mitarbeitenden und die Annahme, dass sie durch Eigenverantwortung und Wissen das beste Ergebnis erzielen können. Doch in einer toxischen Anwendung des Lean-Ansatzes verwandelt sich dieses Vertrauen in subtile Überwachung. Mitarbeitende fühlen sich unter ständiger Beobachtung, was dazu führt, dass sie ihre Arbeitsweise weniger kritisch reflektieren und kaum noch eigene Verbesserungsinitiativen ergreifen. Sie werden dazu angehalten, Prozesse ohne Abweichungen auszuführen, anstatt sie aktiv zu hinterfragen oder anzupassen. Dieser Zwang zur starren Einhaltung widerspricht dem Lean-Gedanken und behindert die Fähigkeit des Unternehmens, sich flexibel anzupassen und zu wachsen. In der Folge entstehen über Jahre hinweg starre Strukturen, die Mitarbeitende nicht mehr inspirieren, sondern nur noch zur Konformität anregen.
Schließlich gibt es noch den Bereich der falschen Effizienz. Effizienz ist ein zentrales Ziel von Lean, doch wenn sie auf Kosten des Kundenwertes und der Mitarbeiterzufriedenheit geht, verliert sie ihren Sinn. In einigen Unternehmen führt das Streben nach Effizienz dazu, dass Mitarbeitende unter ständigem Druck stehen, noch mehr zu leisten, oft auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit und Zufriedenheit. Sie werden angehalten, Arbeitspakete schneller abzuarbeiten, ohne Rücksicht auf ihre Belastbarkeit oder die langfristigen Auswirkungen auf die Qualität der Arbeit. Anstatt Freiraum für echte Verbesserungen zu schaffen, führt dieser Fokus auf Effizienz zur Erschöpfung und dem Gefühl, nur noch für das System zu arbeiten. Der Kunde mag kurzfristig von niedrigen Preisen oder schnellen Lieferungen profitieren, doch langfristig wird er das Nachlassen der Qualität und die Unzufriedenheit der Mitarbeitenden spüren.
So entwickelt sich in vielen Unternehmen eine Schattenseite, in der Lean zwar äußerlich vorhanden scheint, jedoch die ursprünglichen Prinzipien mehr und mehr aus den Augen verliert. Was als Methode zur Steigerung der Wertschöpfung gedacht war, wird zum Kontrollinstrument oder zur Effizienzmaschine, die das Menschliche und den wahren Kundenwert opfert. Wenn Lean langfristig zum Vorteil aller beitragen soll, muss diese dunkle Seite regelmäßig reflektiert und hinterfragt werden. Nur so kann ein Ansatz entstehen, der den Wert für den Kunden und die Gesundheit der Mitarbeitenden gleichermaßen fördert. Andernfalls droht Lean zu einem bloßen Schlagwort zu verkommen, das zwar Effizienz verspricht, aber in Wahrheit die Menschen und Prozesse eher belastet als befreit.
Frage: Welche dunklen Seiten von Lean Management sind Ihnen schon begegnet? Welche Konsequenzen haben sich daraus entwickelt? Wie sind Sie damit umgegangen?
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