Warum die Ausschöpfung des vollen Potenzials Blödsinn ist

Potenzial

Die Vorstellung, alles aus einer Situation, einem Prozess oder gar einem Menschen herauszuholen, klingt zunächst verlockend. Sie verspricht maximale Ergebnisse und Effizienz. Doch je genauer dieses Bild betrachtet wird, desto deutlicher zeigen sich die Brüche. Denn was auf den ersten Blick nach Stärke aussieht, erweist sich im zweiten als Illusion, die in der Praxis kaum Bestand hat.

Das sogenannte volle Potenzial vermittelt die Idee, es gäbe ein festes Maximum, das erreicht und anschließend gehalten werden kann. Diese Annahme blendet jedoch aus, dass sich Systeme ständig verändern. Märkte verschieben sich, Technologien entwickeln sich weiter, Menschen lernen und verlernen. Wer meint, irgendwann am Gipfel angekommen zu sein, steht unweigerlich vor der nächsten Stufe. Es ist also gar nicht möglich, das Ganze vollständig auszuschöpfen, weil der Maßstab sich permanent weiterbewegt.

Hinzu kommt die Frage nach den Grenzen. Vollständige Auslastung einer Ressource mag in der Theorie wünschenswert sein, führt in der Praxis aber fast zwangsläufig zu Überlastung. Wer Maschinen ohne Pufferzeiten betreibt, riskiert Stillstände. Wer Menschen bis ins Letzte verplant, verhindert Flexibilität. Das Streben nach hundert Prozent Auslastung mag wie ein Feature klingen, doch der tatsächliche Vorteil liegt nicht in der maximalen Beanspruchung, sondern in der Balance zwischen Leistung und Reserve. Der wahre Nutzen entsteht dann, wenn diese Balance Raum für Anpassungen lässt und dadurch Stabilität schafft.

„Perfection is not attainable, but if we chase perfection we can catch excellence.“

– Vince Lombardi

Ein weiterer Aspekt ist die Illusion von Perfektion. Volles Potenzial klingt nach einem Endpunkt, an dem nichts mehr zu verbessern ist. Doch genau das widerspricht dem Gedanken einer kontinuierlichen Entwicklung. Wer glaubt, am Limit angekommen zu sein, verschließt den Blick für neue Möglichkeiten. Das eigentliche Versprechen von Lean liegt nicht darin, irgendwann „fertig“ zu sein, sondern im beständigen Weitergehen, im Entwickeln, im bewussten Aushalten, dass es kein endgültiges Perfekt gibt.

Besonders kritisch wird es, wenn der Begriff auf Menschen angewendet wird. Niemand kann dauerhaft am Limit funktionieren. Forderungen nach „vollem Potenzial“ werden schnell zum Übergriff auf das Individuum. Entwicklung ist kein Sprint, sondern ein Prozess, der Phasen braucht, in denen Energie gesammelt, Erfahrungen verarbeitet und Kreativität freigesetzt werden können. Der wahre Nutzen für Organisationen liegt nicht darin, Menschen bis zum Anschlag zu treiben, sondern Bedingungen zu schaffen, in denen Entfaltung möglich wird.

Vielleicht geht es gar nicht darum, alles auszuschöpfen. Vielleicht liegt die Stärke vielmehr in der bewussten Begrenzung, im klugen Verzicht, in der Balance zwischen Anspruch und Machbarem. Wer nicht den letzten Tropfen herauspresst, hat die Handlungsfähigkeit, in neue Richtungen zu denken. Und genau darin kann der Unterschied zwischen kurzfristiger Effizienz und nachhaltigem Erfolg liegen.

Frage: Wie viel Raum für Reserven lässt Ihr System? Wo beginnt für Sie die Grenze zwischen gesundem Anspruch und riskanter Überlastung? Und was würde passieren, wenn es gar nicht darum ginge, das volle Potenzial auszuschöpfen, sondern ständig neues zu entdecken?

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