Kaizen 2 go 344 : Lean Clinical Management


 

Inhalt der Episode:

  • Ein paar Stichworte, um das Prozessumfeld zu beschreiben.
  • Was war der Auslöser, dass Sie sich mit Lean Management im Klinikkontext beschäftigt haben?
  • Was unterscheidet Krankenhausprozesse von klassischen Industrieprozessen? Wo gibt es Ähnlichkeiten/Gemeinsamkeiten, ggf. auf den zweiten Blick und über den reinen Prozesskontext hinaus?
  • Was sind die größten Herausforderungen im Klinikkontext im Bezug auf Prozesse?
  • Welche (anfänglichen) Reaktionen gab es aus den verschiedenen Belegschaftsgruppen?
  • Wie sind Sie damit umgangen? Was würden Sie im Rückblick ggf. heute anders machen?
  • Wie haben sich die “Themen” im weiteren entwickelt?
  • Welcher Nutzen ist für die Beteiligten entstanden?
  • Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus der bisherigen Entwicklung?
  • Was lässt sich auf andere, klassische Industriebranchen übertragen?

Notizen zur Episode:


Mitmachen?

Wenn Sie selbst ein interessantes Thema für eine Episode im Umfeld von Geschäftsprozessen haben, können Sie mir das auf dieser Seite mit Vorbereitungsfragen vorschlagen.

Ich freue mich darauf!

Ihnen hat der Inhalt gefallen? Dann bewerten Sie die Episode bitte bei iTunes.
Jetzt eintragen und Artikel/Denkanstöße zukünftig per eMail erhalten.

Artikel teilen auf ...


(Teil)automatisiertes Transkript

Episode 344 : Lean Clinical Management

Herzlich willkommen zu dem Podcast für Lean Interessierte, die in ihren Organisationen die kontinuierliche Verbesserung der Geschäftsprozesse und Abläufe anstreben, um Nutzen zu steigern, Ressourcen-Verbrauch zu reduzieren und damit Freiräume für echte Wertschöpfung zu schaffen. Für mehr Erfolg durch Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, höhere Produktivität durch mehr Effektivität und Effizienz. An den Maschinen, im Außendienst, in den Büros bis zur Chefetage.

Götz Müller: Heute habe ich Nataša Neuhold bei mir im Podcast-Gespräch. Sie ist verantwortlich für das Lean Operations Management im zweitgrößten österreichischen Universitätsklinikum. Hallo Frau Neuhold.

Nataša Neuhold: Ja, hallo Herr Müller, vielen Dank.

Götz Müller: Ja, schön, dass Sie heute dabei sind. Ich habe schon ein kurzes Stichwort zu Ihnen gesagt, aber stellen Sie sich gern noch mal den Zuhörern in ein paar Sätzen vor.

Nataša Neuhold: Ja, sehr gerne. Vielen Dank. Also genau, ich mache das klinische Lean Operations Management am Kepler Universitätsklinikum in Oberösterreich in Linz, das ist das zweitgrößte Uniklinikum Österreichs. Aus dieser Tätigkeit heraus habe ich auch begonnen, an meiner Dissertation zu arbeiten, die sich damit beschäftigt, also meine ganze Forschungsarbeit, wie man die Lean-Prinzipien und das Lean Management oder das Toyota-Produktionssystem an den klinischen Kontext, speziell an die klinischen Kernprozesse anzupassen und das hat sich so zu meinem Herzensthema irgendwo entwickelt, und damit beschäftige ich mich jetzt ganz intensiv die letzten 5 Jahre und in der Branche bin ich jetzt schon 16 Jahre lang. Also ich kenne fast nichts anderes als das Gesundheitswesen, das Krankenhaus-Management.

Götz Müller: Das finde ich prima, da habe ich jetzt natürlich eine absolute Fachfrau bei mir und aber um jetzt vielleicht den Produktionsmenschen unter uns Zuhörern ein bisschen einen Rahmen zu geben, was ist so das Prozessumfeld über das man im Krankenhaus, in einem Klinikum redet?

Nataša Neuhold: Mhm. Das Prozessumfeld im Krankenhaus, im Klinikum ist sehr komplex und es ist ein sehr dynamisches System. Das hängt natürlich von sehr vielen internen und externen Faktoren ab und umfasst natürlich die Dienstleistungserbringung, die medizinische Dienstleistungserbringung, die Arbeit am Patienten. Was natürlich ganz herausfordernd ist, ist ja auch der Zusammenhang mit dem Begriff Qualität, ja, und Kunde und Produkt, das ist der große Unterschied natürlich auch, die Dienstleistungserbringung ist das Arbeiten am Menschen. Das macht das Ganze nochmal sehr sensibel und sehr komplex. Und was natürlich in Österreich eine große Rolle spielt, wir sind ja ein öffentliches System, auch sehr von den politischen Strukturen und externen Faktoren abhängig. Das erhöht natürlich noch mal die Komplexität der innerbetrieblichen Leistungen und Dienstleistungserstellung, genau.

Götz Müller: Eine weitere Frage, die mich im Grunde immer interessiert und wenn ich meine eigene Historie anschaue, ist das vielleicht ähnlich gewesen. Das werden wir jetzt gleich hören. Was war bei Ihnen jetzt persönlich der Auslöser? Ich glaube halt mit dem Thema Lean, also ganz oft, und bei mir war es auch so, kommt man mit den anfänglich erstmal durch einen, schlichtweg durch einen Zufall in Berührung.

Nataša Neuhold: Mhm, mhm. Tatsächlich war es bei mir in diesem Sinn jetzt kein Zufall. Ich kannte ja Lean Management aus meinem Studium, ich habe ja Prozessmanagement studiert und hatte da ja auch die Berührungspunkte mit dem Lean Management in Zusammenhang mit dem Kontext eines Krankenhauses. Was aber tatsächlich dann der Auslöser war, waren bestimmt diese großen Herausforderungen, die wir schon vor Corona hatten und die jetzt natürlich im Zuge von Corona nochmal verstärkt würden. Also diese Anforderungen an immer besser werdende Qualität, immer schnellere Leistung und gleichzeitig dieser extreme Ressourcenmangel. Und aus den Vorlesungen kannte ich die Probleme oder kamen mir ähnliche Probleme ja bekannt vor, aus den Berichten von Toyota und über das Toyota-Produktionssystem und deswegen fasste ich diesen Mut zusammen, da vor gut fünf Jahren gemeinsam mit dem leitenden Oberrat der Neurochirurgie, das ist der Dr. Stefanits, da zu sagen: Versuchen wir doch mal die Prinzipien von Toyota neu zu denken und so die Herausforderungen im Krankenhaus zu bewältigen. So kam das zustande, genau.

Götz Müller: Okay. Jetzt haben wir es schon angerissen, Krankenhausprozesse, und ich gehe mal davon aus, die allermeisten der Zuhörer kommen halt jetzt eher aus einem industriellen Kontext und ich glaube, da wäre es noch mal wichtig, noch ein bisschen tiefer einzusteigen, wie Sie es schon angedeutet haben, was denn die, im Grunde fundamentalen, Unterschiede sind zwischen Krankenhaus und Industrie, aber ich meine, sonst würden wir uns ja wahrscheinlich gar nicht unterhalten, es gibt mit Sicherheit natürlich auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten.

Nataša Neuhold: Mhm. Mhm, es gibt, also ich denke, der ganz große Unterschied, man sagt immer, jede Branche ist besonders und egal, über welche Branche man redet, da ist immer alles ganz besonders, sicher in der Industrie jetzt auch nicht so anders als bei uns im Krankenhaus. Ich bin jetzt auch nicht so sehr betraut mit den industriellen Prozessen, muss ich auch dazu sagen, aber was ganz sicher eine Besonderheit im Krankenhaus ist, dass es sich um Expertenorganisationen handelt, mit sehr arbeitsteiligen Prozessen, die sehr stark an wissenschaftliche Leitlinien, medizinische Standards natürlich auch gebunden sind und wo, wie schon bereits angesprochen, ja der Kunde, an dem die Dienstleistung ja nicht nur für den, sondern an dem die auch erbracht wird, der Patient ist, der menschliche Faktor, und hier natürlich das ganze Thema hochsensibel ja auch behandelt wird. Das, denke ich, ist der größte Unterschied und vor allem auch hier immer wieder, auch im Zusammenhang mit dem Lean Management, nicht nur die Effizienz und die Leistungssteigerung und den Fluss zu betrachten, sondern vor allem auch die Sicherheit für den Mitarbeiter und für den Patienten im Zuge dieser Dienstleistungserbringung. Das ist das, was wir im Krankenhaus leider jetzt immer mehr übersehen, weil wir hier nur die Leistungssteigerung im Sinne der Effizienzsteigerung betrachten. Was natürlich auch in den Industrieprozessen bestimmt ein ganz wichtiger Faktor ist, auch diese Sicherheit, Effizienz und Qualität miteinander zu verknüpfen, aber ich denke mal, der Kunde ist einfach ein ganz anderer und die Leistungsserbringung passiert nicht, indem ein Produkt erstellt wird, sondern tatsächlich, indem man am Kunden arbeitet und dann haben wir im Krankenhaus noch diese Komplexität, dass wir dann auch so mit den externen Zuweisern, mit den internen Zuweisern, jeder ist ein Experte, die Führungskräfte sind Experten in Medizin und Pflege und nicht immer im Management. Das erschwert natürlich die Lenkung dieser Prozesse auch erheblich und die Betreuung der Schnittstellen und blockiert die Transparenz auch dieser Leistungserstellung oder dieser Prozess der Leistungserstellung.

Götz Müller: Ja, ich hatte gerade so das Bild vor dem geistigen Auge, was man natürlich jetzt in dem Produktionskontext immer machen kann, auch wenn man es natürlich immer versucht zu vermeiden, ist halt, dass man ein, in Anführungszeichen, defektes Teil halt aussortiert, entweder, ein bisschen blöd jetzt natürlich der Vergleich, verschrottet oder nacharbeitet, das ist eine Sache, die wird beim Menschen halt ein bisschen schwieriger, vermute ich mal, ganz naiv betrachtet.

Nataša Neuhold: Absolut. Und vor allem, Sie sprechen es ja gerade an, auch die Definition von Qualität, das ist ja sehr schwer auch zu beurteilen, weil man kann ja mit den Strukturen und dem Umfeld, ja, das kann man subjektiv beurteilen, aber der Patient selbst, der ja eigentlich, ja, hier auch der Kunde ist, kann ja die Leistungsqualität nur sehr schwer beurteilen, weil das ja auch schicksalshafte Verläufe auch sind. Man macht das Beste und arbeitet komplett standardkonform und es kommt leider ein schlechtes Ergebnis raus und anderswo macht man es vielleicht nicht so sauber und nicht so einwandfrei den Leitlinien konform und das Outcome für den Patienten ist hervorragend, also auch erschwert es und es ist natürlich sehr schwer mit dem Qualitätsmanagement und Prozessmanagement im klinischen Kontext. Genau.

Götz Müller: Kann man im Grunde auch, so etwas wie eine größte Herausforderung identifizieren? Also im klassischen Produktionskontext, Mal von der Qualität abgesehen, von der man immer davon ausgeht, sie ist halt 100%, das nächste, nachdem man halt guckt, ist typischerweise die Durchlaufzeit, auch wenn an manchen Stellen eher auf die Kosten geguckt wird, aber wenn ich das durch die Kundenbrille betrachte und eben Qualität voraussetze, dann ist das nächste ja die Durchlaufzeit, auf die ich gucke, wie ist das, kann man das auch so im Krankenhaus betrachten durch diese Brille oder ist es dann eben etwas anderes?

Nataša Neuhold: Nein, also es ist ganz sicher der Versorgungsauftrag beziehungsweise der Fluss, ja, der Patientenfluss und den zu steigern ist bestimmt ein Ziel, aber genau, wie Sie es schon gesagt haben, das sind auch die größten Herausforderungen. Wir haben ja historisch gewachsene Strukturen und der Reifegrad des Prozessmanagements und der schnittstellenübergreifenden Zusammenarbeit ist jetzt nicht so ausgeprägt, damit wir da jetzt, wenn ich jetzt an die Lean-Prinzipien denke, anhand dieser Prinzipien optimieren könnten. Also wir haben ja ganz unterschiedliche Abläufe, ganz unterschiedliche Dienstpläne. Das Krankenhaus funktioniert ja in organisatorischen und funktionalen Silos. Wir haben einerseits die Pflegeberufe, dann die Verwaltung, dann das medizinische Personal. Hier einen Fluss zu erzeugen und alle Flaschenhälse irgendwo zu reduzieren oder zu beseitigen, ja, das ist bestimmt die größte und sinnvollste Aufgabe, aber auch gleichzeitig die größte Herausforderung.

Götz Müller: Mhm. Gut, jetzt könnte ich mir vorstellen, dass es ihnen vielleicht auch schon begegnet ist, Sie haben es zumindest an einer Stelle so bisschen, so habe ich es zumindest rausgehört, zwischen den Zeilen ein bisschen formuliert, diese Aussage, die mir auch in anderen Kontext immer wieder begegnet „Ja, wir bauen ja keine Autos“, das fand ich aber so spannend, wo Sie gesagt haben, dass, bei Ihnen – war es ein Oberarzt? – gesagt hat: „Ja, bin ich dabei.“ Das ist ja fast schon der Traum, könnte man sagen.

Nataša Neuhold: Genau. Das ist absolut ein Traum und ich hatte da auch ein ganz großes Glück und der begleitet mich ja seit dem ersten Tag durch diesen ganzen Nebel, muss ich schon fast sagen und hilft da irgendwie, dass wir Klarheit schaffen, man findet aber vermehrt auch solche Mediziner. Sie müssen sich es so vorstellen, wir haben ja so einen enormen Handlungsdruck im Krankenhaus und auch die klinischen Mitarbeiter sind sich der Tatsache bewusst, wenn wir hier etwas nicht ändern und bessere Voraussetzungen oder Strukturen schaffen, dann wird auch die Versorgung nicht mehr funktionieren und der Chirurg will ja natürlich operieren und der geht dann ja auch Kompromisse ein und zeigt Bereitschaft, Dinge zu optimieren, wenn das auch seine Operations- oder OP-Kapazitäten steigert. Und ich denke schon, dass da sehr viele Mediziner und vor allem auch in der Pflege sehr viele interessierte Personen zu finden sind, die diese Entwicklungen vorantreiben. Aber Sie haben ganz Recht, man hört öfter eine Nein als ein Ja und das ausschlagende Argument ist immer „Wir sind nicht Toyota, wir produzieren keine Autos“ oder „Wir sind nicht in Japan, das passt gar nicht zu unserer Kultur“, das sind so die zwei Dinge, die man immer wieder hört, wenn man sagt „Na wollen wir denn nicht die Lean-Philosophie bei uns anwenden?“, absolut richtig.

Götz Müller: Ja, ich bin insofern beruhigt, wobei das natürlich wieder ein schwacher Trost ist, ich höre so etwas auch von meiner Tochter, die ist Fachkrankenschwester, fast fertig jetzt mit ihrer Zusatzausbildung und was sie mir manchmal erzählt, hm, muss ich dann auch sagen, sie kommt auch einigermaßen rum in verschiedenen Krankenhäusern und da kann man dann fast schon so ein Ranking aufstellen, wo man sagt: Wenn dir irgendwas fehlt, da gehst du besser nicht hin, weil du vielleicht kränker wieder rauskommst im Extremfall. Ich hatte in dem Kontext vor, ja, im Grunde schon einigen Jahren, auch mal eine Unterhaltung mit jemandem aus dem Krankenhauskontext, der kam dort aus der Verwaltung raus und der hat für mich einen Satz geprägt, der mir sehr lebendig im Kopf geblieben ist und den man im Grunde an vielen anderen Stellen auch einsetzen kann. Er hat den Begriff des gesteuerten Zufalls im Krankenhaus verwendet.

Nataša Neuhold: Mhm.

Götz Müller: Das fand ich sehr, sehr spannend. Das war jetzt entschuldigend oder nicht entschuldigend, können wir ja dann vielleicht auch da noch mal den Unterschied rausarbeiten, es war halt ein deutsches Krankenhaus, aber das, was Sie mir jetzt erzählt haben bisher und das, was ich da schon aus verschiedenen Quellen weiß, scheint mir da gar kein so ein großer Unterschied zu sein.

Nataša Neuhold: Ich glaube, dass es weltweit in der Krankenhauslandschaft nicht die großen Unterschiede gibt. Klar, das, was uns ganz groß von Deutschland unterscheidet, hier in Österreich ist, dass wir jetzt diesen Kostendruck nicht so extrem verspüren und durch diese öffentliche Finanzierung oder diese öffentliche Zugehörigkeit des Krankenhauses haben wir auch nicht diesen extremen Wettbewerb, aber ich denke, die Probleme sind ja alle gleich. Wir haben hier Qualitätsverluste, aufgrund von Kompetenzverlusten, uns gehen die Fachkräfte weg, die wir sehr teuer ausgebildet haben und hochkompetente Experten kehren dem Gesundheitswesen den Rücken, ja, also die Strukturen sind derart frustrierend, dass wir wirklich sehr gute und sehr ausgebildete Leute verlieren und dadurch natürlich auch diesen demografischen Wandel und den aktuellen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, auch gar nicht mehr entgegenwirken können. Das sind so unsere größten gemeinsamen Nenner und was natürlich jetzt, vielleicht ist das ja auch gar keine Frage von Ihnen gewesen, aber ich finde das sehr wichtig, dies zu sagen ist: Was machen wir denn jetzt eigentlich mit dem Lean Management? Ich beobachte, die letzten fünf Jahre oder sechs Jahre wird das ja ein richtiges Umbrella Word, also das ist so ein Trendbegriff, alle wollen plötzlich das schlanke Krankenhaus. Ja, das ist ja so richtig in Mode. Aber was wollen wir denn eigentlich mit Lean machen? Also das ist ja immer so diese Frage, die ich ja jedem stelle, warum wollen Sie Lean einführen? Und irgendwie kann mir diese Frage ja dann fast niemand beantworten. Es ist einfach gerade so die rosarote Wunderpille. Es wird scheinen, als würden wir dann plötzlich mit den Ressourcen, die wir haben, total gut performen können, aber so richtig, was man davon erwartet, mit dieser Frage scheint sich jetzt nicht so die große Masse auseinandergesetzt zu haben und Sie wissen das ja, das habe ich ja auch schon oft bei von Ihnen in den Kommentaren gelesen oder in den Podcasts auch gehört. Es geht ja hier um strukturierte Problemlösungen und wir machen aus dem Lean Management etwas ganz Hochkomplexes. Wir wollen hier einfach Werkzeuge nehmen, es gibt ja ganz viel Literatur, und da berichtet man über ganz tolle und wirklich unglaublich gute Werkzeuge, die ja auch von Toyota angewandt wurden. Was wir aber sehr übersehen, ist, dass wir diese Grundbasis, dieses Qualitätsverständnis, dieses Verständnis für Prozessmanagement und Prozessoptimierung noch gar nicht haben, und wir wollen da auf dieses nicht vorhandene Fundament einfach diese unglaublich guten Tools einfach anwenden und hoffen, die gleichen Ergebnisse zu erzielen. Und ich glaube, das ist die größte Schwierigkeit und die größte Herausforderung aus meiner Sicht jetzt in meiner Branche, im Gesundheitswesen, was die Lean Prinzipien und deren Anwendung angeht.

Götz Müller: Mhm. Gut, da kann ich Sie insofern beruhigen. Das ist nicht nur im Gesundheitswesen eine Herausforderung, sondern das ist im Grunde in allen Branchen eine Herausforderung, speziell wenn man dann vielleicht so ganz krasse Sachen uns anschauen, was ja jetzt auch aktuell in aller Munde ist: Digitalisierung, Automatisierung, wo man dann eben auch ganz oft im, jetzt klassischen Kontext, möchte ich es mal nennen, halt den Kunden aus dem Auge verliert und natürlich könnt ich mir da jetzt vorstellen, dass das im Krankenhaus vielleicht auch Potenziale gibt, aber dadurch, dass das Produkt gleich dem Kunden ist, natürlich noch mal eine ganz andere Hausnummer ist, oder?

Nataša Neuhold: Mhm. Absolut. Vor allem, also ich mache ganz viele Audits im Krankenhaus und was da immer wieder auffällt, ist dieser Begriff Kunde, interner und externer Kunde. Wir alle im Krankenhaus sagen, der Patient ist unser Kunde, aber wenn ich jetzt als Qualitätsmanagerin oder Lean-Operations-Managerin mich selbst betrachte, dann ist mein Kunde ja eigentlich der Mediziner oder die Pflege oder der Health Professional, für den ich ja eigentlich eine Serviceleistung erbringe und ihm dabei Unterstützungsstrukturen zu schaffen, damit er die beste Arbeit für seinen Kunden leisten kann. Und allein dieses Bewusstsein fehlt noch sehr. Also da kann man sich ja auch gar nicht bei der Einzelnen und jeweiligen Dienstleistungserbringung nach dem Kunden ausrichten, wenn wir nicht mal genau wissen, wer denn unser Kunde eigentlich ist. Also das ist ja vielleicht dann auch dieser große Unterschied, den es womöglich zur Industrie gibt, dass wir den Kundenbegriff ganz diffus verwenden im Krankenhaus.

Götz Müller: Ja, also da, da kommt mir ein Punkt in den Sinn, das habe ich vor ein paar Jahren gelesen, vielleicht kennen Sie es auch, das Buch von den zwei Schweden, This is Lean, gibt es auch in einer deutschen Übersetzung, „Das ist Lean“, die ja relativ am Anfang diese Gegenüberstellung oder diesen Prozessablauf einer Gewebeprobe jetzt in dem Fall bei einer Frau, wenn ich es richtig im Kopf habe, durchspielen und da eben ein Stück weit auch herausarbeiten, dieser hohe Zeitverlust, was jetzt im Grunde in der Industrie genau das Gleiche ist, dass die eigentlich wertschöpfende Zeit ja nur minimal ist, im Vergleich zur gesamten Durchlaufzeit, und aber was eben da auch rauskommt, diese, und das höre ich ein Stück weit eben von anderen auch immer mal wieder, und das unterstreicht das, was sie gerade gesagt haben, diese diffuse Kundensicht, möchte ich es mal nennen – Ist jetzt der Arzt mein Kunde? Ist jetzt der Patient mein Kunde? Da kann ich Sie aber insofern auch wieder beruhigen, ich habe auch schon Fälle gehabt, wo speziell, wenn es um den internen Kunden geht, krasse Missverständnisse existieren, wer eigentlich mein interner Kunde ist und dadurch und daraus dann auch, ja, etwas merkwürdige Prozesse resultieren.

Nataša Neuhold: Mhm. Absolut. Und das ist auch etwas, was wir täglich beobachten und vor allem, Sie sprechen ja jetzt sehr oft von der Durchlaufzeit und Sie haben vollkommen recht, das wäre auch Ziel, erstens einmal zu betrachten, na ja, wer ist denn eigentlich mein Kunde, intern vor allem, also dass unser großer gemeinsamer Nenner der Patient ist im Krankenhaus, oder in der Automobilindustrie der Käufer, ist ja eh klar, aber wir müssten ja alle wissen, was unser Beitrag ist und wie wir uns alle nach unserem einzelnen Kunden ausrichten und ich glaube, dass nicht nur die Durchlaufzeit dadurch verbessert werden würde, dieser Fluss, sondern generell die die gesamtsystemische Auslastung. Wir haben ja so eine derartige Instabilität der Prozesse, weil ja die Leute einfach gezwungen sind, sich irgendwie Abhilfe zu verschaffen, und da ist ja keine Standardisierung da. Das heißt, wir haben ja Instabilität, wir haben Streuung, ein unglaublich ungleichmäßig ausgelastetes System und ich denke, da sollten wir zuerst ansetzen, um dann erst eben diese Prozessdurchlaufzeiten zu verbessern oder effizienter zu gestalten. Und das können wir natürlich erst, wenn wir uns mit diesem Kundenbegriff eigentlich auseinandersetzen und für wen erbringe ich denn eigentlich intern auch die Leistung und wer ist der nächste im Prozess und wie hängt der von mir ab? Genau.

Götz Müller: Ja, da kommt mir jetzt gerade noch ein Bild, wenn man halt so eine klassische Produktionsstraße, Automobilkontext speziell, vor dem geistigen Auge hat, da hängt überall dieses Andon Cord, an dem ich ziehen kann und was mir jetzt gerade die Frage durch den Kopf geht, ist, kann man sich etwas Vergleichbares in einem Krankenhaus überhaupt vorstellen, dass jemand diese Chance hat, eben da zu ziehen, an dem Andon Cord? Und dann springen mindestens einer oder halt, wenn es etwas Schwieriges ist, gleich ein paar und da tun, ist so etwas Vorstellbar in einem Krankenhaus?

Nataša Neuhold: Ja. Das wäre vorstellbar, wenn wir die Ressourcen haben. Aber Sie müssten sich vorstellen, wir haben aktuell derartige Probleme, dass oft, wenn eine Krankenschwester im OP krank wird, sperren wir einen ganzen OP-Saal, also da ist es irgendwie total, diese Ressourcenknappheit, die wir jetzt gerade im Fachkräftebereich im Gesundheitswesen vorfinden, ist alarmierend und dieses, ich nenne es immer Schlaraffenland, das wir früher hatten und früher hätten wir bestimmt solche Dinge einführen können, problemlos, da hatten wir die Ressourcen, da hat das ja auch alles funktioniert, aber wie diffus und instabil und teilweise auch unorganisiert unser Gesamtsystem ist, das macht sich erst jetzt bemerkbar, indem wir halt einfach wirklich am Limit arbeiten und massive Probleme haben, die Leistung überhaupt mit den vorhandenen Ressourcen, und da rede ich jetzt nicht nur von finanziellen Mitteln, sondern primär von Fachkräftemangel, damit wir überhaupt die Leistung erbringen können. Aber es wäre vorstellbar, ja, wäre vorstellbar, wenn wir überhaupt die zeitlichen und personellen Ressourcen dafür hätten, dann wäre das natürlich eine Überlegung, die sehr wohl Sinn machen würde, auch mit der Brille des Risikomanagements aufgesetzt, genau.

Götz Müller: Mhm, okay. Jetzt würde mich noch ein Punkt interessieren, weil ich glaube, dass das auch noch mal eine Sache ist, aus der dann eben klassische Industrie eventuell auch etwas lernen kann. Sie hatten es schon bisschen angetan, wir hatten schon ein bisschen drüber gesprochen. Natürlich schreitet jeder Hurra, wenn man mit dem Begriff ums Eck kommt und wahrscheinlich auch durch das, was sie jetzt zuletzt gesagt haben, durch diese Knappheit, so im Sinne von „Wir haben keine Zeit, da irgendwas zu machen, wir müssen“ – ein bisschen flapsig ausgedrückt – „an den Menschen herumschnitzen.“, das heißt, ich habe da bestimmte Reaktionen, die, ja, drücken wir es mal vorsichtig aus, die halt nicht förderlich sind, mit denen ich aber halt irgendwie umgehen kann und da jetzt vielleicht meine, oder nicht nur vielleicht, sondern meine Frage: Wie gehen Sie damit um? weil ich mir halt vorstellen könnte, dass man jetzt aus einem klassischen, durch eine klassische Produktionsbrille wieder betrachtet, vielleicht sogar etwas davon lernen kann.

Nataša Neuhold: Mhm. Wie ich damit umgehe? Also ich habe für mich herausgefunden, dass der Erfolgsfaktor Vertrauen schaffen ist und für mich selbst zu erkennen, es geht hier nicht um mich, um mir selbst zu beweisen, Lean funktioniert super toll im Krankenhaus, sondern Lean dafür anzuwenden, diese wirklich brennenden Probleme dieser Menschen zu lösen und wenn man damit beginnt, sich zu kümmern, denen eine Stimme zu geben und dann meine Kompetenz dazu verwenden, mit Lean Management oder mit den Lean Prinzipien deren Probleme zu lösen, dann wird das wirklich ein Selbstläufer. Also wir hatten ja an einem Standort des Kepler Universitätsklinikums, auf der Neurochirurgie hatten wir ja damit begonnen, und das hat sich dann so schleichend und positiv auf sämtliche benachbarten Abteilungen ausgebreitet, indem wir einfach wirklich dieses Respect for People, das ja so im Zentrum der Lean-Ideologie steht, nicht einfach als Schlagwort verwendet haben, sondern gesagt haben: „Liebe Leute, jetzt sind wir hier, wir hören uns das an, wir probieren Dinge mit euch aus, wir unterstützen euch, aber ihr müsst jetzt mit uns mitwirken, sonst wird es später keinen Sinn zum Jammern geben oder wird es keinen Sinn ergeben zu jammern.“ Und das war tatsächlich, so banal es auch klingt, dieses Reintauchen in die Klinik und Ärmeln hochkrempeln und mit denen mitarbeiten und auch diese Probleme selbst spüren und gemeinsam Lösungen zu finden, das war so der Schlüssel für den Erfolg und wir haben da wirklich, also das sind unglaublich gute Beispiele, die sich daraus entwickelt haben, wir arbeiten jetzt ganz stark mit Kennzahlen, total transparent, schnittstellenübergreifend, nicht nur innerhalb der Abteilung, was die Berufsgruppen angeht, sondern auch zu den benachbarten Fachabteilungen. Das hat sich jetzt irgendwie als ein ganzes Team entlang der Patientenkarriere entwickelt. Das klingt jetzt so wie eine Grundvoraussetzung im Krankenhaus, sollte es auch sein, aber das ist es tatsächlich in der Regel nicht und das ist alles eigentlich nur deshalb passiert, weil man sich die Zeit genommen hat und sich gekümmert hat. Also das ist jetzt vielleicht total enttäuschend für Sie, dass ich das jetzt so in seinem, dass ich da jetzt kein großes Geheimrezept habe, das so komplex klingt, aber das war tatsächlich die Lösung.

Götz Müller: Nein, ich finde das total gut, weil im Grunde, also auf meine persönlichen Mühlen ist das Wasser ohne Ende und ich weiß nicht, wie es ihnen geht, ich bin halt ganz oft so ein bisschen ein einsamer Rufer in der Wüste.

Nataša Neuhold: Mhm.

Götz Müller: Es will manchmal eben keiner hören. Und was ich jetzt bei Ihnen aber auch rausgehört habe, eben diese anfängliche Investition, auch zeitliche Investition, vor allen Dingen, ja, das hört sich jetzt vielleicht auch wieder blöd an, das Pferd eben hinten aufzäumen, wenn man sich die Lernprinzipien anguckt, dann ist ja dieses Respect for People, in den Urprinzipien steht das ja gar nicht drin, sondern erst, gefühlt mindestens zehn, vielleicht waren es auch zwanzig Jahre später dazu, also so ein bisschen ein Nachschlag und Sie haben aber im Grunde, und wie gesagt, deshalb ist es für mich persönlich Wasser auf die Mühlen, Sie haben im Grunde damit angefangen und ich kann Sie da insofern nur ja bestätigen, dass das meiner Ansicht nach der ganz große Unterschied ist und der ganz große Erfolgsfaktor, eben nicht mit dem schneller, billiger und so weiter anzufangen.

Nataša Neuhold: Mhm, absolut. Und man muss ja auch eine Sache verstehen im Krankenhaus. Ich muss, ich gehe immer wieder zurück auf die Frage eingangs, die Sie mich gefragt haben, was die großen Unterschiede zwischen der Industrie und dem Gesundheitswesen sind, wir haben ja im Krankenhaus Experten, die ja Medizin und Pflege betreiben und dann kommt das Management und sagt „Wir brauchen, wir wollen, wir wollen Zertifizierungen, wir wollen ein Change Management, Clean Management, Prozessmanagement“ und schmeißt das da in diese medizinischen Fachabteilungen rein, in Leute, die damit eigentlich im Zuge des Studiums oder der Ausbildung ja absolut keine Berührungspunkte haben. Die verstehen auch den Mehrwert dieser Ansätze nicht und wenn man dann nicht die Funktionalität oder die Denkweise der Health Professionals versteht und auch, was ihre drängenden Probleme sind, dann schafft man es nie, diese großen Überlegungen, so salopp gesagt, auf dem Boden zu bringen. Und das war so die meiste Zeit, die ich dafür angewandt habe, als mir auch das OP-Gewand anzuziehen und in den OP zu gehen und Dinge, wo ich gedacht habe „Ach ja, das klingt super schlau, das habe ich ja in einem Buch gelesen“, habe ich oft probiert umzusetzen und habe dann wirklich selbst dieses Learning by Doing gehabt, dass manche Dinge einfach auch nicht gehen und dass die Realität vor Ort ganz anders ist als die Realität, die uns immer so in diesen theoretischen Büchern oder Ansätzen beschrieben wird, und das war, glaube ich, schon der Schlüssel, dass mir die Leute auch vertraut haben, dass ich das selber ernst meine. Und ein weiterer Aspekt ist tatsächlich die Kata-Methode, von der halte ich sehr viel, also dieses bildende Management- und Problem-Solving-Kompetenz bei den Mitarbeitern vor Ort durch anwesend sein und immer wieder ausprobieren und wirklich diesen PDCA-Zyklus anzuwenden und zu leben, das war auch ganz sicher so ein Erfolgsfaktor, der das ganze Lean-Management-System in einer medizinischen Fachabteilung dann zum Selbstläufer gemacht. Und das ist letztendlich auch genau dieser Respect for People und Einbeziehung in die Problemlösung, weil Sie wissen ja selbst, die Lösungen, die von den Menschen generiert werden und die Ideen, die intern kommen, sind die akzeptierten und die nachhaltigen. Ich sage ja auch immer, wenn ich hingehe: „Ihr kennt das Problem und ihr kennt ja auch die Lösung, wir müssen es nur gemeinsam dann in ein System einbetten, das dann für alle unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen gut funktionieren kann.“

Götz Müller: Mhm, jetzt wo Sie die Kata noch ins Spiel gebracht haben, ging mir natürlich noch ein anderer Punkt durch den Kopf. Einer der zentralen Begriffe ist dort ja das Scientific Thinking. Jetzt ist natürlich, wenn ich jetzt so einem Produktionsmenschen, das soll jetzt bitte keine Wertung sein, aber wenn ich zu dem hingehe und sage „Jetzt denk halt mal wissenschaftlich.“, dann guckt er mich mit großen Augen an und das ist dann schon fast die harmlose Reaktion. Und da jetzt aber mal nachgefragt, ist das jetzt einfacher in einem medizinischen Kontext? Wo ich jetzt als Laie wiederum so bisschen das Bild habe, ja, dieses wissenschaftliche und Universitätsklinikum wahrscheinlich erst recht, dieses wissenschaftliche Denken muss dort ja im Grunde absolut drin sein – ist das wirklich so oder kann man vielleicht auch da noch mal einen Transfer schaffen?

Nataša Neuhold: Viel komplexer. Also, wenn ich jetzt vom wissenschaftlichen Ansatz spreche und dann Kata erkläre, dann schauen mich auch die Wissenschaftler oder diese top-ausgebildeten Akademiker mit ganz großen Augen an. Deswegen rede ich immer von dieser wissenschaffenden Methode und nicht wissenschaftlich, weil das ist wirklich gerade in einem Universitätsklinikum ein ganz heikler Punkt. Das muss ich ganz stark voneinander differenzieren, weil die sonst sagen: Hä, weißt du eigentlich, was Wissenschaft ist? Und da geht man gleich in Richtung Publikation und wissenschaftliche Arbeit, das ist dann, das wird dann noch komplexer. Tatsächlich glaube ich, ist das im Krankenhaus schwieriger, aber was ich sehr gerne mache und sehr gerne anwende, ist, dass ich sage, diese kleinen Experimente und diese Learnings daraus, eigentlich hat ja jeder Mediziner und jeder in jedem Pflegeberuf oder medizinisch-technischen Beruf, denkt man ja genauso. Man hat ja ein Problem, man beschäftigt sich mit dem Problem, überlegt sich dann eine Therapieform, wendet die dann an, bewertet das Outcome, macht die Learnings daraus und adaptiert die am Schluss oder sagt „Gut hat bewirkt, der Patient ist geheilt.“ und das ist so mein Beispiel, wie ich dann auch versuche, Kata oder PDCA oder dieses strukturierte Problem-solving in die Köpfe dieser hochkomplex denkenden Menschen zu verankern, und das funktioniert dann aber gut, die verstehen das dann auch sehr gut. Und dann sage ich: Behandeln sie auch einfach das System, wie ihr eure Patienten behandelt. Da sagt ihr auch nicht einfach, ja, das ist eigentlich das Problem und schmeißt Lösungen drauf und hofft, dass irgendeine wirkt, das macht man ja da auch nicht, da geht man ja auch strukturiert in der Behebung der Problemursache vor, und zwar nicht nur das Symptom, sondern auch tatsächlich der Grunderkrankung, und das ist das, was, was dann eigentlich viel besser hilft, als wenn ich sage: „Denkt wissenschaftlich.“ Das wird dann nur für mich diffus und komplex und dann reden wir alle einander vorbei und jeder hat diesen wissenschaftlichen oder diesen Begriff der Wissenschaft ganz anders für sich interpretiert. Deswegen immer, und das habe ich damals auch von Thilo Schwarz gehört, immer sagen, wissenschaffende Denkweise und nicht wissenschaftliche, weil das könnte zu ganz großer Verwirrung, gerade im universitären Bereich, ob es jetzt akademisch, also in schulischer Bildung oder im Krankenhaus oder wo auch immer angewandt wird.

Götz Müller: Ja, das find ich jetzt sehr spannend, weil allein aufgrund dieser letzten Sätze hat es sich für mich persönlich jetzt auch schon wieder gelohnt, weil ich zum Beispiel jetzt allein das Beispiel nehmen kann und sagen, so im Sinne von, ich weiß, dass ihr mit der Begrifflichkeit Herausforderungen habt, ich kann euch insofern beruhigen, wenn man in ein Universitätsklinikum geht und dort darüber redet, passiert im Grunde genau das Gleiche, weil mir eben oft so ein bisschen, manchmal sehr offensiv, manchmal aber eben auch verdeckt, und man kann dann ja zwischen den Sätzen das raushören, so im Sinne von „Ja, wir sind aber keine Wissenschaftler, wir sind Handwerker im Extremfall.“, und da kann ich, und das hat sich, wie gesagt, jetzt für mich schon gelohnt, da kann ich jetzt sagen: „Da seid ihr nicht alleine mit der Herausforderung. Das geht sogar denen, von denen ihr zum Beispiel glaubt, dass das die reinen Wissenschaftler sind, weißer Kittel und so weiter, denen geht es genauso.“ Das, glaube ich, nimmt ziemlich Druck aus der Sache, wenn ich mir das so vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen lasse.

Nataša Neuhold: Absolut. Und deswegen finde ich dieses wissenschaffende Denken, weil de facto geht es ja darum, wir wollen ja Learnings, wir wollen ja Experimente, wir wollen ja die Leute auch dazu befähigen, sich auszuprobieren, und tatsächlich sehe ich jetzt gar nicht so diese große Herausforderung in diesem Scientific Thinking, ich sehe die größte Herausforderung auch in Kata, in dem Bereich, die Menschen zu befähigen, sich einfach zu trauen, auch Fehler zu machen, auch mal eine falsche Lösung. Natürlich muss man gerade im Krankenhaus hochsensibel damit umgehen und diese ganze Entwicklung auch tracken, aber dass man auch mal sagt, ich probiere das jetzt mal anders, und wenn es nicht passt, dann adaptiere ich diese Lösung oder mache halt etwas anderes daraus. Wir machen ja irgendwie, wenn man auch diesen Plan-Do-Check-Act-Cycle, den kennen sie ja auch sehr gut, wenn man den betrachtet, habe ich oft den Eindruck, wir machen Plan so zur Hälfte und dann nur noch Do und dann kommt nichts mehr. Also Check-Act passiert dann fast kaum noch und da müssen wir aber hin, die Menschen auch zu ermutigen und zu befähigen, sich auszuprobieren und das nächste Thema ist natürlich auch dieses Don't Jump to Solution. Wenn ich zum Beispiel jetzt oft sage, jetzt gehen wir mal diese Patientenwege durch und ihr sagt mir, wo eure Probleme sind, dann kommen sie gleich mit „Ja, da müssten wir dieses Formular machen“, dann sage ich „Nein, das ist schon ein Lösungsvorschlag, was ist denn das Problem?“, also und dieses problembezogene Denken und das Herausfiltern von Problemen, das finde ich, ist tatsächlich die größte Herausforderung in meinem Tätigkeitsbereich.

Götz Müller: Ja, da kann ich Sie insofern beruhigen, nicht nur in Ihrem Tätigkeitsbereich, sondern im Grunde in allen anderen. Und ich meine, Sie haben vielleicht auch schon mal, vielleicht nicht im eigenen Arbeitsumfeld, oder hoffe ich mal, dort nicht, aber dieser und ich werde jetzt mal ein bisschen derber, dieser saublöde Spruch, „Kommen Sie mir nicht mit Problemen, kommen Sie mir mit Lösungen“, das ist ja unterste Schublade, wenn das eine Führungskraft sagt, weil sie damit so viel kaputt macht im Grunde, was Fehlerkultur und all diese Dinge angeht und ich glaube, wenn wir das auch in einem Krankenhauskontext nicht hätten, wir wären ja immer noch beim Aderlass.

Nataša Neuhold: Ja, absolut. Mhm, Mhm. Ja, und genau das ist ja unser, wir müssen also, und das sehe ich jetzt auch als eine ganz große Herausforderung, wenn wir wirklich, ich mag ja diesen Begriff Transformation nicht unbedingt, aber jetzt wähle ich den mal so vorsichtig, wenn wir diese Transformation in Richtung Lean Thinking and Working im Krankenhaus oder generell, Sie sehen ja, wir haben ja ganz große Parallelen, die haben wir jetzt gerade gemeinsam ganz schön herausgefiltert und herauskristallisiert, aber wenn wir da hin wollen, dann müssen wir auch unsere Denkweise und Verhalten verändern und auch natürlich das Führungsverhalten und die Führungsstile an diese Philosophie angleichen. Und da sehe ich ganz, ganz großes Potenzial und das jetzt unabhängig von den Branchen, sondern generell, also auch in der Ausbildung der Führungskräfte. Das sind nämlich genau diese Aspekte, die sie angesprochen haben, immer dieses lösungsorientierte. Wir gehen ja auch gar nicht in die Wurzel des Problems. Ich sage ja auch oft im klinischen Betrieb, wenn wir mit Problemen arbeiten, oft taucht bei uns in der Abteilung das Problem auf, ist aber schon viele Abteilungen vorher passiert in einem ganz anderen Bereich und da muss man Kompetenzen auch entwickeln, diese Root Cost Analysis einfach durchführen zu können. Das sind natürlich auch ganz viele Themen, die jetzt auch in die Ausbildung und in Richtung Führung gehen, aber da muss man selbstverständlich auch ganz, ganz stark ansetzen.

Götz Müller: Ja, ich fand das jetzt prima, auch wie Sie es zum Schluss noch mal zusammengefasst haben und mache jetzt an der Stelle einen Knopf dran. Ich glaube, wir könnten wahrscheinlich uns locker noch eine weitere halbe Stunde unterhalten. Ich behalte das mal nicht im Hinterkopf, vielleicht unterhalten wir uns wirklich mal, konkret noch über den Führungsaspekt noch mal und was wir daraus rausarbeiten können, aber auf jeden Fall jetzt zu dem Zeitpunkt danke ich Ihnen sehr für die Zeit, die Sie jetzt mit mir investiert haben.

Nataša Neuhold: Ja. Sehr gerne.

Götz Müller: Für mich hat es sich definitiv gelohnt.

Nataša Neuhold: Sehr, sehr gerne. Ich sag auch danke schön. Danke auch für Ihre Zeit. Ja, es war wirklich ein sehr nettes Gespräch und ich habe es auch sehr genossen, weil es mich ja dann auch immer wieder so ein bisschen zur Reflexion bringt und ich habe ja auch jetzt sehr viel über die Industrie gelernt und für mich, was ich mir mitnehmen kann, ist, tatsächlich ist es in allen Branchen ähnlich, wir stehen eigentlich vor den gleichen oder vor sehr ähnlichen Herausforderungen und können da jetzt auch branchenübergreifend und immer wieder austauschen, gemeinsam neue Ansätze entwickeln. Vielen Dank dafür, ja.

Götz Müller: Das war die heutige Episode im Gespräch mit Nataša Neuhold zum Thema Lean Clinical Management. Notizen und Links zur Episode finden Sie auf meiner Website unter dem Stichwort 344.

Wenn Ihnen die Folge gefallen hat, freue ich mich über Ihre Bewertung bei Apple Podcasts. Sie geben damit auch anderen Lean-Interessierten die Chance, den Podcast zu entdecken.

Ich bin Götz Müller und das war Kaizen to go. Vielen Dank fürs Zuhören und Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten Episode. Und denken Sie immer daran, bei allem was Sie tun oder lassen, das Leben ist viel zu kurz, um es mit Verschwendung zu verbringen.
Jetzt eintragen und Artikel/Denkanstöße zukünftig per eMail erhalten.

Artikel teilen auf ...

Hinweis: Ich behalte mir vor, Kommentare zu löschen, die beleidigend sind oder nicht zum Thema gehören.