In dem Interview bzw. Gespräch war ein Ausgangspunkt für mich der Leistungsprozess, der in der Geriatrie und speziell in den pflegerischen Anteilen zum Einsatz kommt.
Während sich der Leistungsprozess im „normalen“ Gesundheitswesen an der Wiederherstellung eines Gesundheitszustands orientiert (ausgelöst durch Krankheit oder Unfall) ist das in der Geriatrie in meinen Augen anders.
Hier geht es oft nur darum, eine Linderung eines Zustands zu schaffen, der durch den normalen Alterungsprozess hervorgerufen wird. Speziell wenn dieser von Demenz begleitet wird, kann man im Grunde nicht von der Wiederherstellung eines Idealzustands sprechen. Dabei wird es bspw. schon schwierig, den Kunden – d.h. den Patienten – in die Definition dieses Idealzustands einzubeziehen, da er selbst nicht mehr in der Lage ist, diesen Zustand wirklich zu benennen und zu beschreiben, um damit seine Anforderungen an die Leistung zu äußern.
Damit wird es dann auch schwierig, Qualitäts- und zeitliche Kriterien als Ausgangspunkt für Verbesserungen zu fassen, ebenso wie Standards auf den ersten Blick nicht so greifbar sind wie in klassischen Produktionsszenarien, mit allem was an unterstützenden Aktivitäten dafür notwendig ist.
Trotzdem können m.E. Lean-Konzepte zum Einsatz kommen, wenn man sich die klassische Wertschöpfungsdefinition vor Augen führt und das auf die Tätigkeiten im pflegerischen und ärztlichen Kontext abbildet.
Im Kontrast dazu stehen die nicht wertschöpfenden Tätigkeiten, die es dann gilt zu identifizieren, zu reduzieren und idealerweise zu vermeiden.
– Kurt Marti
Diese Tätigkeiten sind dabei durchaus auch von der ausführenden Person abhängig. So wie man in der klassischen Unternehmenskontext zwischen produktiven und logistischen Anteilen differenziert, kann man diese Sichtweise auch auf den Leistungsprozess in der Geriatrie abbilden.
Da kann man sich bspw. die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, wenn eine Pflegekraft auch logistische Tätigkeiten wie die Essensverteilung übernimmt. Oder wie die Essensverteilung so optimal gestaltet werden kann, dass die entsprechenden Personen freie Kapazitäten gewinnen, um vielleicht ein kurzes, wirklich zugewandtes Gespräch mit dem „Kunden“ zu führen und sich nach dessen Bedürfnissen zu erkundigen. Und wenn es auch nur ein offenes Ohr für eine Erzählung vom Besuch der Verwandten am letzten Wochenende ist.
In diesem Kontext ist es dann evtl. auch notwendig, die klassische Definition von Wertschöpfung zu überdenken und den Kontrast zu nicht-wertschöpfenden Aktivitäten neu zu fassen.
Auf jeden Fall ist es auch nützlich, andere beteiligte Personen in diesen Erkenntnisprozess einzubeziehen und vorhandene aber evtl. versteckte oder verborgene Kunden-Lieferanten-Beziehungen an die Oberfläche zu bringen.
Ein möglicher Einstieg in diesen Erkenntnisprozess ist die Durchführung einer Wertstromanalyse. Im Vordergrund steht als Ergebnis allerdings weniger die bloße Einteilung der Tätigkeiten in wertschöpfend und nicht-wertschöpfend, sondern vielmehr das gemeinsame Verständnis über die Gesamtheit aller Tätigkeiten mit der spezifischen Definition und Zuordnung in die beiden Kategorien.
Mit diesem „neuen“ Gesamtverständnis für die Situation, die wechselseitigen Abhängigkeiten und Querbeziehungen wird es dann wieder möglich Lean-Prinzipien und -Konzept auch in der Geriatrie einzusetzen.
Diese Vorgehensweise lässt sich auch auf andere Szenarien fernab von der Herstellung von Gütern oder begleitenden Service- und Unterstützungsprozessen übertragen, in denen klassische Wertschöpfungszuordnungen scheinbar nicht möglich sind.
Hier finden Sie zur Vertiefung einen evtl. auf den ersten Blick paradoxen Artikel über die Wertstromanalyse.
Frage: Welchen Herausforderungen sind Sie schon begegnet, wenn klassische Lean-Prinzipien (scheinbar) nicht angewendet werden können? Wie sind Sie damit umgegangen? Was wären mögliche Alternativen (gewesen)?
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