Wo Lean ein schmaler Grat ist

Grat

Der Begriff bzw. die Redewendung schmaler Grat impliziert, dass es zwei Seiten (einer Medaille) gibt und die dicht beieinander liegen und immer eine gewisse Gefahr besteht auf der einen oder anderen Seite sprichwörtlich runterzufallen.

Im Lean-Kontext tritt dieser schmale Grat oft bei institutionalisierten Verantwortlichkeiten für Verbesserungen auf. Damit meine ich Rollen, Funktionen und Organisationsbereiche, die sich vor allem oder ausschließlich um Verbesserungen kümmern.

Das können interne Rollen sein oder auch die Form externer Unterstützung annehmen. In beiden Fällen gibt es gewisse Ähnlichkeiten und Ursachen, deren man sich bewusst sein sollte, speziell wenn man Verantwortung für das Thema trägt.

Dabei meine ich jetzt nicht die direkte Verantwortung für Verbesserungen, die im Grunde jeder Mensch in einer Organisation trägt (was sich auch auf den persönlichen Kontext und Bereich übertragen lässt), sondern im Grunde noch spezieller wenn sich die Verantwortung auf einer Meta-Ebene bewegt, man also dafür verantwortlich ist, dass das Verbesserungsthema an sich gepflegt und vorwärts gebracht wird, auch indem sich die Beteiligten (also alle) der Verantwortung für die eigene Mitwirkung bewusst sind bzw. dieses Bewusstsein geschaffen, gepflegt und ebenfalls weiterentwickelt wird.

Wenn man die beschriebene Meta-Verantwortung trägt und sich dabei auch mit ihr identifiziert, besteht gerade dann die Gefahr, dass sich das Engagement stark und zu sehr auf die inhaltliche Ebene konzentriert und die strukturellen Elemente zu kurz kommen.

Dabei kann sich durchaus ein Teufelskreis entwickeln, der seine Energie aus unterschiedlichen Quellen speist.

Einerseits trägt die zunehmende Routine und Erfahrung mit Verbesserungen und den eingesetzten Methoden und Werkzeugen dazu bei, dass man dabei eben selbst besser darin wird. Oft wird diese Entwicklung auch vom Umfeld wahrgenommen. Das können dabei Kollegen, ebenso wie Mitarbeiter und Vorgesetzte sein. Man kann da sehr leicht zum “Go-to-Guy” werden, der immer sofort Ideen hat, wenn irgendwas nicht funktioniert oder wenn es darum geht, eine Sache zu verbessern.

„Die Gratwanderung entwickelt sich zur vorherrschenden Fortbewegungsart, und je höher man aufsteigt, desto unwirtlicher wird das Gelände.“

– Günter Ogger

Im Extremfall kann dieser Effekt zu erlernter Unselbstständigkeit bis hin zu Hilflosigkeit im Umfeld führen. Diese wird aber nicht selten im Umfeld gar nicht als negativ eingeordnet, sondern ist oft einfach (unbewusst) bequem, weil es da ja jemand gibt, der sich kompetent um die Themen kümmert.

Erschwerend kann dann ein weiterer Effekt eintreten, wenn man die inhaltliche Verbesserungsarbeit auch auf einer organisatorischen Ebene übertragen bekommt. Gesteigert wird dieser Effekt noch dadurch, wenn man vermeintlich wohlmeinend sogar die notwendigen zeitlichen Freiräume erhält, um sich auf die Verbesserungsarbeit konzentrieren zu können.

Wie schon erwähnt, können diese Effekte nicht nur innerhalb einer Organisation auftreten, sondern bei externer Unterstützung. Nicht selten ist der Effekt dabei sogar noch stärker ausgeprägt, weil bei der externen Unterstützung sogar die explizite Erwartungshaltung besteht, dass man sich bspw. als Berater um die Verbesserungsarbeit kümmert.

Aus diesem Teufelskreis kann man im Grunde nur entkommen – und das ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der internen und externen Rolle – wenn man vom ersten Tag an danach strebt, sich überflüssig zu machen. Bei der resultierende Konsequenz unterscheiden sich dann allerdings die beiden Szenarien.

Bei der internen Rolle muss es Mechanismen geben, die die wirtschaftliche Abhängigkeit und Konsequenz der Überflüssigkeit der Funktion auffängt, indem ein Vertrauensverhältnis besteht und in Abstimmung mit dem Betroffenen Alternativen gesucht werden.

Bei der externen Rolle besteht durchaus eine ähnliche wirtschaftliche Abhängigkeit vom Leistungsbedarf des Kunden, die sich aus der Rolle ergibt. Diese entsteht jedoch nie zufällig und sollte bewusst akzeptiert und gewählt sein.

Wenn man sich ausreichend intensiv mit den Folgen dieser Gratwanderung beschäftigt hat, geht es dann darum, wie der Absturz vermeidbar ist. Ein Ausweg ist der Einsatz der Coaching-Kata aus der Toyota-Kata. Im Gegensatz zur Verbesserungs-Kata geht es hier darum, andere Menschen zur Verbesserungsarbeit zu befähigen, sich selbst von inhaltlichen Beiträgen zu lösen und sich auf die strukturelle Unterstützung zu konzentrieren.

Ist das einfach oder leicht?

Mit Sicherheit nicht. Es ist unbequem für die Menschen, die jetzt die inhaltliche Verbesserungsarbeit übernehmen, ebenso wie für die, die es jetzt unterlassen sollen. Weil sie auf Widerstände stoßen werden, bei anderen und bei sich selbst. Aber in der wohlmeinenden Überwindung dieser Widerstände und der Unterstützung in der Überwindung liegt dabei das deutlich größere Entwicklungspotenzial für alle Beteiligten und damit auch die (einzige?) Chance das Thema Lean mit allen notwendigen Elementen in der Organisation voranzubringen.

Frage: Was ist Ihre größte Herausforderung bei Verbesserungen außerhalb der rein inhaltlichen Ebene? Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um? Was wären mögliche Alternativen?

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