Ich habe mich zuerst mal auf die beliebte (für mich ;-) Meta-Ebene zurückgezogen und mir überlegt, unter welchen Aspekten Best Practices denn betrachtet werden können. Meine Überlegungen dazu beschreibe ich in den folgenden Absätzen.
Zeitliche Aspekte von Best Practices
Marcus Raitner nennt gleich zu Beginn seines Artikels die Krisensituation in Projekten als den Einsatzfall von Best Practices. Im Lean Management kommen Best Practices vor allem zu Beginn der Einführung ins Spiel, wenn nach einem Vorbild gesucht wird. Diese Situation dürfte auch im Projekt-Management auftreten, wenn dieses formal eingeführt werden soll. Die Folgen sind grundsätzlich sehr ähnlich – es entsteht ein (falsches) Gefühl der Sicherheit und das Heulen und Zähneklappern ist dann später groß, wenn sich nicht die gewünschten Resultate einstellen und evtl. sogar eine Verschlimmerung auftritt.
Standardisierungs-Aspekte von Best Practices
Ein Grundgedanke von Projekt-Management ist die Standardisierung. Letztlich würde der Begriff gar nicht existieren, wenn auf der sprachlichen Ebene nicht eine Generalisierung (als eine Ausprägung von Standardisierung aus dem Meta-Modell der Sprache) stattfinden würde. Gleiches gilt auch für das Lean Management. Dort sind die Standards allerdings stärker auf der Ebene der Tätigkeiten zu finden, während Marcus Raitner sich nur auf die Methodik bezieht. Trotzdem gibt es auch im Lean Management selbst Standards auf der methodischen Fehlerebene. Ein Beispiel sind die Katas, wie sie Mike Rother ins Spiel gebracht hat und sich dabei erfreulicherweise auf einer sehr universellen und allgemein gültigen Ebene bewegt (er bezeichnet sie deshalb auch nicht als Problemlösungsmethode, sondern als Prozess zur Entwicklung von Fähigkeiten).
Zertifizierungs-Aspekte von Best Practices
Eng mit dem Standardisierungsgedanken verbunden sind Zertifizierungen (sowohl der Unternehmen als auch der Menschen). Auch hier liegt die Schlussfolgerung nahe (wie das auch in den Kommentaren unter o.g. Blog-Artikel zum Ausdruck kommt), dass ein nicht zu unterschätzender Aspekt die Absicherung von Entscheidungen ist (was sich dann wieder mit dem Untertitel des Blog-Artikel deckt). Interessanterweise spielen im Lean Management in meiner Wahrnehmung Zertifizierung eine deutliche geringere Rolle, zumindest im Personenumfeld, anders als im Unternehmensbezug, wo die ISO-9001-Zertifizierung wieder eine sehr große (und oft zweifelhafte) Rolle spielt. Auch hier wird vermutlich der Absicherungsaspekt oft gerne, wenn auch nicht immer bewusst mitgenommen.
– Gyan Napal, Autor von ‘Talent Economics'
Verantwortungs-Aspekte von Best Practices
Letztlich führen die Standardisierungsaspekte dann zu den Verantwortungsaspekten bzw. der Wegdelegation im Sinne der organisierten Verantwortungslosigkeit, auch wenn das vermutlich die meisten von sich weisen würden und dies auch nicht in der Intension der „Erfinder“ lag. Leider entsteht aber hier auch häufig eine anerzogene Unselbstständigkeit (im Denken) als Folge der Best Practices, die einen oberflächlichen Vorteil mitsichbringt.
Werkzeug-Aspekte von Best Practices
Auch hier bestehen große Ähnlichkeiten bei der Problematik, im Lean Management sehe ich sie sogar noch etwas stärker ausgeprägt, weil es hier sogar oft zu einer Reduzierung der „Sache“ auf den Einsatz von Werkzeugen kommt. Im Projekt-Management mag es zwar zum unreflektierten Einsatz von Meilensteintrendanalysen oder Ablaufplänen kommen, es wird aber (hoffentlich) niemand auf die Idee kommen, Projekt-Management in der Definition darauf zu reduzieren.
Methodische Aspekte von Best Practices
Ich differenziere hier bewusst zwischen Werkzeugen und Methoden, weil ich die Methoden auf einer höher abstrahierten Ebene betrachte. Einen wichtigen methodischen Aspekt im Projekt-Management sehe ich bspw. im Bewusstsein darüber, dass Projekt-Management auch einem Prozess folgt. Natürlich ist es hier auch wichtig darüber zu reflektieren, ob ein klassisch phasenorientierter Ansatz oder doch eher eine agile Vorgehensweise zielführender ist. Im Lean Management tragen zusätzlich noch weitere Aspekte auf höheren Ebenen zum Erfolg oder Misserfolg bei, die bei den so genannten Best Practices dann wieder leider übersehen werden, weil diese weit weniger sichtbar sind und deshalb auch nicht einbezogen werden. Stichworte hier sind Prinzipien, Werte, Kultur, Philosophie, Vision.
Fazit: Sowohl im Projekt-Management als auch im Lean Management kann die unreflektierte Nutzung von Best Practices erhebliche negative Folgen haben, die dann oft der „Sache“ an sich zur Last gelegt werden, weil das „Warum“ nicht beachtet wurde (ein Aspekt übrigens, der Job Instructions des TWI von anderen Unterweisungsmethoden abhebt). In beiden Fällen ist es wichtig, alle Randbedingungen zur beachten (die beispielsweise über die Logischen Ebenen sowohl im Projekt-Management als auch im Lean Management betrachtet werden können).
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