Ist Multitasking ein Produktivitätskiller?

Zu diesem Artikel hat mich eine Podcast-Episode (#10) von Michael Hyatt inspiriert. Er spricht dort davon, dass Multitasking ein Produktivitätskiller ist und plädiert dafür, dass bestimmte Dinge (Telefonate, eMail-Bearbeitung, Besprechungen) in Batches durchgeführt werden. Grundsätzlich ist diese Empfehlung ja nicht neu und generell stimme ich ihr auch zu. Allerdings hat der Begriff “Batches” bei mir eine Assoziation zum Lean Management bzw. Toyota Production System (TPS) ausgelöst. Ein wichtiges Merkmal dort ist das Fluss-Prinzip, auch One-Piece-Flow genannt. Dieses Prinzip steht nun im kompletten Widerspruch zu Batches, deren wichtigstes Merkmal ist, möglichst große (Fertigungs-)Lose zu bearbeiten (vor allem um das häufige Umrüsten von Maschinen zu vermeiden).

Warum wird nun im TPS das Fluss-Prinzip favorisiert und Batches weitgehend vermieden. Schauen wir uns dazu die wichtigsten Nachteile an, wie sie in der Literatur zum TPS und Lean Management beschrieben werden:

  • Batches verursachen Puffer, diese gehören zu den Verschwendungen (Lager, Platzbedarf) und verursachen darüber hinaus längere Durchlaufzeiten (Wartezeiten), ggf. auch Transport in Lagerorte (ebenfalls zwei Verschwendungen).
  • Defekte, die erst in späteren Verarbeitungsstufen auftreten, werden bei größeren Losen erst verzögert erkannt. Dies ist speziell dann ein Problem, wenn es ein systematischer Fehler ist.
  • Batches verhindern Flexibilität (auch durch die verlängerte Durchlaufzeit).
  • Batches verschleiern durch die Puffer Produktivitätsmängel, Probleme und Ineffizienzen, die durch die o.g. Verschwendungen entstehen.
  • Batches können Gefahren hervorrufen, speziell durch die notwendigen Transporte.

Welche Lean-Werkzeuge bzw. Vorgehensweisen können nun eingesetzt werden, um Flow zu erreichen. Ich beschreibe dies anhand der Bearbeitung von eMails. Ähnlich lässt sich das auch auf andere Bereiche übertragen.

  • Pull-Technik: Das bedeutet, das automatische Abrufen und audio-visuellen Anzeigen von eMails zu deaktivieren. eMail werden erst abgerufen, wenn die notwendige Bearbeitungskapazität zur Verfügung steht, d.h. wenn keine höherprioren Aktivitäten mehr anstehen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, klare Ziele bis hin zu einer Vision vor Augen zu haben, um daran die Handlungen auszurichten.
  • Klare Kunden-/Lieferantenbeziehungen: eMails sollten dann auch gleich automatisch sortiert werden: z.B. eMails, die an mich gerichtet wurden; eMails, die mich nur in CC erreichen; Newsletter-eMails usw.
  • Arbeitsplatz-Design, visuelle Kontrollen: Die entsprechenden Ordner sollten dann auch gleich anzeigen, ob sie neue, d.h. ungelesenen eMails enthalten.
  • Kanban/Supermarkt-Prinzip: Neue eMails werden nur abgerufen, wenn die letzten eMails alle bearbeitet sind und noch zeitliche Kapazität zur Verfügung steht (siehe Pull-Technik oben).
  • Priorisierung bzw. First-in/First-out: Bearbeitung der eMails entsprechend der Ordner und innerhalb der Ordner nach vermuteter Dringlichkeit im Betreff bzw. Zeitpunkt des Eintreffens.
  • First-time-right: eMails nur einmal anfassen und mindestens sofort entscheiden, welche Aktion (s.u.) ansteht. Diese Entscheidung kann sich wieder durch Unterordner repräsentieren (Weiterbearbeitung, Postausgang, Ablage, Papierkorb).
  • 5S/5A-Technik
    1. Sortiere aus, aussortieren: Den Posteingang regelmäßig (täglich) leeren, bearbeitete eMails aus dem Posteingang entfernen
    2. Stelle ordentlich hin , ausrichten/aufräumen: Eine Ordnerstruktur anlegen, mindestens Ablage/Archiv, Lesematerial (Newsletter, Blogs usw.), Kalender (spätere Bearbeitung), Postausgang (für die Delegation), Papierkorb
    3. Säubere, Arbeitsplatzsauberkeit: nicht mehr benötigte eMails löschen oder mindestens in einer Extradatei speichern. Hier handelt es sich um eine Art Total Productive Maintenance Prinzip (TPM), um zu vermeiden, dass das eMail-Programm Performance-Probleme (beim Suchen) bekommt oder die Mailbox überläuft (passiert gern bei IMAP und kostenlosen eMail-Accounts aber auch bei Firmen-Accounts, bei denen die Größe beschränkt ist).
    4. Sauberkeit bewahren, Anordnung zur Regel machen: Während die ersten drei Punkte vor allem Sofortmaßnahmen sind, handelt es sich bei Punkt 4 und 5 um langfristige und kontinuierliche Maßnahmen.
    5. Selbstdisziplin, alle Punkte einhalten und verbessern: Hier geht vor allem um die Selbstverantwortung, unterstützt werden kann das, durch eine Assistenzfunktion (so sie denn vorhanden und möglich ist).

Die Literatur zu Lean und TPS sagt aber auch ganz klar, dass One-Piece-Flow um jeden Preis nicht sinnvoll ist. Es ist für jeden Einzelfall eine Abwägung zu treffen zwischen unnötig frühem Aufgeben des Fluss-Prinzips und einer angemessenen Losgröße. So ist z.B. bei Bearbeitungszeiten von 30 s der One-Piece-Flow oft nicht angebracht.

Was ich aber in diesem Zusammenhang auch klar zum Ausdruck bringen möchte, ist der Punkt, dass Batch-Processing von eMails nicht bedeutet, erst alle eMails einmal zu lesen, um sie danach in zweiten oder noch weiteren Durchgängen zu bearbeiten. Speziell bei eMails mit ihrer oft kurzen Bearbeitungszeit gilt als wichtigstes Prinzip, dass sie nur einmal angefasst werden (natürlich hat jede Regel ihre Ausnahmen). Näheres kann in David Allens Getting Things Done® Methode (s.u.) nachgelesen werden. Speziell bei der Bearbeitung von eMails lohnt es sich ein Bewusstsein zu schaffen für die wertschöpfenden und nicht wertschöpfenden Anteile der Aktivitäten.

Wertschöpfend Nicht wertschöpfend
  • Abrufen der eMail
  • Lesen der eMail, speziell wiederholtes Lesen
  • Entscheiden wie die eMail behandelt werden soll: bearbeiten (sofort/später), delegieren, speichern, löschen
  • Bearbeiten der eMail durch Formulieren einer Antwort oder delegieren / übergeben an einen Mitarbeiter mit einer Anweisung, wie das Ergebnis aussehen soll.
  • Weiterleiten, abspeichern oder löschen der eMail
  • Suchen von eMails
  • eMail ausdrucken, um dann die Papierversion weiterzubearbeiten (bishin zur Rückführung in das elektronische Format)

Auch im Zusammenspiel mit einer Assistentin oder einem Assistent ist es ganz entscheidend, dass keine redundanten Bearbeitungsschritte bei der Behandlung von eMails entstehen. Lean bedeutet nicht, die Bearbeitung in kleinste Einheiten zu zerschneiden, um dadurch den – dann falschen – Eindruck von Fluss zu erzeugen.

Batch-Processing von eMails erreicht dort seine klaren Grenzen, wo die Bearbeitung von eMails ansich Teil der Wertschöpfungskette ist, beispielsweise im Kundendienst, bei der Auftragsannahme usw. Dies sind all die Fälle, wo nach der (Erst-)Bearbeitung noch weitere Prozessschritte folgen, die direkt mit der eMail selbst zusammenhängen. Hier kommt es in der Regel ganz klar auf kurze Durchlauf- und Reaktionszeiten an, die nur erzielt werden können, wenn die einzelne eMail so schnell wie möglich bearbeitet wird. Ähnlich gelagerte Fälle sind z.B. in der modernen Arbeitswelt auch in der Beobachtung von Social-Media-Plattformen zu finden, zumindest wenn diese von einer Vielzahl von Besuchern frequentiert werden.

Um zurück zur Eingangsfrage zu kommen: Ja, Multitasking kann definitiv zum Produktivitätskiller werden, unangemessen große Zeitscheiben können jedoch Wartezeiten und Inflexibilität verursachen. Als früherer Software-Entwickler möchte ich auf die Prozessortechnik zurückgreifen, wo der Begriff Multitasking letztlich seinen Ursprung hat. Auch dort ist es wichtig, dass der Prozessor nicht zu oft die Tasks wechselt, weil jeder Wechsel selbst etwas Rechenzeit benötigt. Andererseits sind wir froh, dass die Zeiten der Nacht- und Wochenend-Batch-Jobs mit den den entsprechenden Wartezeiten hinter uns liegt (siehe auch HBR-Blog-Post).

Frage: Welche Lean-Werkzeuge setzen Sie schon bei der Bearbeitung Ihrer eMails ein? Welche Vorgehensweisen haben Ihnen zu mehr Effizienz verholfen? Wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial?


Literaturhinweise

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