Sieben Verschwendungen in der Notaufnahme

Auch Notdienste in Krankenhäusern sind vor den sieben Verschwendungen nicht gefeit. Hier ein kleiner Bericht aus der “Praxis”.

Es begann alles mit plötzlichem Schwindel meiner Frau verbunden mit heftiger Übelkeit noch im Bett vor dem Aufstehen. Ein erster Anruf beim Notdienst (ca 8:03 h) erreichte nur die Ansage, dass der Notdienst samstags ab 8 h zur Verfügung steht. Nun, wollen wir mal nicht zu pingelig sein, wir sind natürlich der Empfehlung gefolgt, direkt vorbeizuschauen.
Verschwendungsarten: Unangemessene Prozesse

Dann die Ankunft im Krankenhaus: Am Eingang steht kein Rollstuhl zur Verfügung, wahrscheinlich habe ich früher zu viel Schwarzwaldklinik angeguckt. Bis zur Notfallpraxis sind es noch 50 m, ein ganz nettes Stück bei starkem Schwindel. Kleine Wahrnehmung am Rande: Das absolute Halteverbot in der Zufahrtsschleife scheint für weiße Audi A5 nicht zu gelten (warum muss ich hier an einen Arzt denken?). Bei der Annahme zum Notdienst angekommen, sitzen dort schon drei Patienten, eine Person wartet in der Aufnahme. Medizinisches Personal ist nicht zu sehen.
Verschwendungsarten: Bewegung/Transport, Warten, unangemessene Prozesse

Die Annahme: Als erstes sind die Daten dran, Versichertenkarte und die Praxisgebühr (merke: Notfall kostet extra). Danach kommt die Frage, um was es denn eigentlich geht. Bis jetzt noch keine Wertschöpfung!
Verschwendungsarten: Unangemessene Prozesse, Warten

Da der Schwindel meiner Frau wieder zunimmt, kann sie auf eine Liege im Behandlungsraum neben dem Aufnahmezimmer liegen. Da ich zur Untätigkeit verdammt bin, kann ich mich dort etwas umsehen. Auf dem Schreibtisch liegt eine Abreißauflage, die offensichtlich mal mit einer erheblichen Menge Wasser in Berührung gekommen ist. Außerdem befinden sich dort drei geöffnete Pakete mit Einmalhandschuhen und eine ganze Anzahl von Schachteln, deren Lagerungszweck auf dem Schreibtisch mindestens dem Laien verborgen bleibt.
Verschwendungsarten: Lager/Bestände

Durch die offene Tür zum Aufnahmezimmer bleibt es nicht aus, dass ich einige Telefonate der Arzthelferin verfolgen kann. Sie ruft verschiedene Ärzte an. Dabei wird sowohl bei ihr als auch bei den angerufenen Ärzten klar, dass es unklar ist, wer denn Fahrdienst bzw. Rufbereitschaft hat (ein angerufener Arzt ist sogar auf einem auswärtigen Kongress). Wirklich dringend scheint es der Unterhaltung am Telefon nach aber nicht zu sein. Der betroffene Laie macht sich natürlich nur unnötige Gedanken.
Verschwendungsarten: Unangemessene Prozesse

Während der Wartezeit kommt die Helferin zweimal ins Zimmer, um aus verschiedenen Schubladen Verbandsmaterial und eine Salbe zu entnehmen. Die richtigen Utensilien findet sie nicht gleich. Bei den Mullbinden nimmt sie dann drei Stück ganz hinten aus dem Fach, um eine wieder zurückzulegen. Uns würdigt sie dabei mit keinem Blick. Das Material trägt sie dann mit bloßen Händen weg.
Verschwendungsarten: Unangemessene Prozesse, Lager, Transport, Bewegung, Suchen (Warten)

Beim dritten Mal fragt die Helferin meine Frau, ob sie etwas zum Trinken möchte. Ein Lichtschein am Horizont. Nach einigen Minuten kommt sie mit einem Plastikbecher zurück. Mit Sprudel! War da nicht etwas mit Übelkeit? Ich tausche den Sprudel gegen Wasser aus dem Wasserhahn aus.
Verschwendungsarten: Transport, Bewegung, Warten, Fehler

Hurra, die Wertschöpfung beginnt … vielleicht

Als wir endlich drankommen, dürfen wir noch den Behandlungsraum wechseln. Es ist jetzt schon sehr deutlich nach 9 h, gefühlt haben wir mindestens 60 Minuten gewartet. Der Arzt hat dort eben den PC eingeschaltet. Vermutlich, vielleicht war's aber auch die Helferin. Nach dem Hochfahren wartet er auf die Helferin, die das “Programm” startet und sich mit einem Passwort anmeldet. Während das Programm anläuft, öffnet und schließt sie mehrfach am Drucker neben dem PC das Fach für die Einzelblattzufuhr. Das dokumentiert einschlägige Erfahrung und kreativen Umgang mit der Technik.
Verschwendungsarten: Warten, unangemessene Prozesse, Bewegung (der Helferin), Transport (Patient)

Jetzt beginnt endlich die Anamnese des Arztes, inklusive der Frage, ob eine Schwangerschaft besteht (meine Frau ist 48, aber sie sieht jünger aus :-). Wir lernen aber etwas über die verschiedenen Schwindelformen. Bei Drehschwindel scheint die Richtung wichtig zu sein. Danach folgt die Eingabe der Anamneseinformationen in 2-Finger-Adler-Such-System in das Programm (das anscheinend von einem bekannten Arzneimittelhersteller stammt oder gesponsort ist, zumindet bilde ich mir ein beim Hochlauf ein entsprechendes Logo erkannt zu haben), unterbrochen von wiederholter Abfrage der Informationen (wer kann sich schon alles merken). Die Anamneseeingaben sind akustisch deutlich zu verfolgen, umfangreich aber ziemlich inhaltsleer.
Verschwendungsarten: Überproduktion, unangemessene Prozesse

Es folgt eine Blutdruckmessung und Pulsabnahme (beides im Normbereich) gefolgt der Abtastung des Bauches, ebenfalls unauffällig bis auf ein Gluckern (passiert morgens manchmal, speziell bei leerem Magen). Danach kommt etwas umständliche Auswahl der vordefinierten Diagnoseangaben in mehreren Stufen: Durchfall-Krankheit + Schwindel. Jetzt sind wir alle schlauer. Der Notfall-/Vertretungsschein wird ausgedruckt (hier bin ich mich nicht mehr sicher, ob das nicht die Helferin gemacht hat) und die Therapie für die Medikamentation wird handschriftlich ergänzt.
Verschwendungsarten: Fehler (s.u.), unangemessene Prozesse

Der Arzt macht sich auf zum nächsten Patienten, Waschmöglichkeit für die Hände bestehen in diesem Behandlungsraum nicht (wäre mir nicht aufgefallen, aber er schimpft etwas entsprechendes vor sich hin).
Verschwendungsarten: Bewegung, unangemessene Prozesse

Wertschöpfung – der zweite Versuch

Zurück im Aufnahmezimmer versucht die Helfer die handschriftlich vermerkten Therapieangaben in ein Rezept umzusetzen (“ich glaub', es ist das“). Nur gut, dass meine Frau mal in der Apotheke gearbeitet hat und beide Medikamente kennt. Ein erstes Rezept wird gedruckt. Beim zweiten Medikament wieder etwas Unklarheit, welches es aus der Liste ist. Aber zum Glück kommt jetzt eine zweite Helferin zu Hilfe, die das zweite Rezept ausdruckt. Sie geht dann für die Unterschrift in den Nachbarraum (in dem wir vorher waren), in dem jetzt eine Behandlung stattfindet.
Verschwendungsarten: Überproduktion, unangemessene Prozesse, Bewegung, potenzielle Fehler

Jetzt sind wir endlich fertig. Der Warteraum ist mittlerweile leer, dafür sind jetzt zwei Helferinnen und zwei Ärzte anwesend.
Verschwendungsarten: Unangemessene Prozesse

Fazit: Der Schwindel hat bei meiner Frau noch den ganzen Tag angehalten, trotz Medikament. Die Übelkeit ging glücklicherweise ohne weiteres vorbei (kein weiterer Durchfall oder Erbrechen), ohne Medikament.

Und was waren die Folgen: Wir sind um 30 € und 2 h ärmer, aber um einige Erfahrungen reicher. Für die Leser und mich ist eine kleine Geschichte über das Potenzial von Lean-Methoden in der “Praxis” abgefallen, es war also unter verschiedenen Aspekten nicht “umsonst”. Entstanden ist sie durch ein Gedächtnisprotokoll, bestimmt wären bei einer bewussten und sofort dokumentierten Verschwendungsaufnahme noch weitere Auffälligkeiten zu Tage getreten.

Anmerkung

Ich will hier nicht über Ärzte und anderes medizinisches Personal schimpfen. Die Wahrnehmung von Verschwendungen gelingt in der Regel nicht, wenn man Teil des Systems ist. Und im System steckt das Problem. Aber zahlen wir dafür kontinuierlich steigende Beiträge?

Hinweis: Ich behalte mir vor, Kommentare zu löschen, die beleidigend sind oder nicht zum Thema gehören.