Warum Reife auch Nachteile haben kann

Reife

Bevor ich in die Details zu dieser Aussage einsteige, ist es vermutlich notwendig, erstmal den Reife-Kontext näher zu erläutern. Dass der Reife-Begriff hier natürlich etwas mit Lean & Co. zu tun hat, dürfte vermutlich klar sein.

Wenn ich also jetzt über Reife und mögliche Nachteile schreibe, kann das die Reife von Organisationen betreffen, ebenso wie die Reife von Menschen aber auch von Prozessen. Da stecken dann auch Elemente wie Zustand, Entwicklung, Erfahrung, Wissen drin, aber auch die implizite Abgrenzung zur Unreife, zum Stillstand, zur fehlenden Erfahrung, zum Nicht-Wissen.

Dass negativ besetzten Elemente Nachteile mitbringen, dürfte auf auf der Hand liegen. Dass auch die positiv besetzten Elemente Nachteile haben können, hatte ich u.a. schon in anderen Artikeln beschrieben [1], [2], ebenso wie ich mir über Reife im KVP-Kontext schon mal Gedanken gemacht hatte [3].

In diesem Artikel geht's mir um eine besondere Form der Wechselwirkung zwischen bestimmten Ausprägungen und Begleiterscheinungen organisatorischer Reife und den (nachteiligen) Auswirkungen, die sich daraus auf Menschen und Organisationen ergeben können.

Was mir immer wieder mal begegnet, sind Organisationen, die sich durch die Initiative einzelner Menschen, manchmal einer Einzelperson, zu einer Lean-Reise verschrieben haben. Manchmal und anfänglich etwas gezwungenermaßen im Sinne eines Push-Vorgangs, manchmal auch idealerweise durchs Pull-Ansätze.

Jetzt geht es mir aber gar nicht darum die Vorteile des Pull-Ansatzes zu diskutieren (der nicht nur für Produktionsverfahren gilt, sondern auch für die Lean-Einführung und -Entwicklung), sondern darum, was passieren kann, wenn ein gewisser Zustand der Reife eintritt.

Dann kann es zu Ermüdungserscheinungen kommen und die Verbesserungsbestrebungen zurückgehen, weil die viel zitierten niedrighängenden Früchte alle geerntet sind. Die Menschen in den Organisationen müssen sich plötzlich vermeintlich mehr anstrengen, um Verbesserungen zu erzielen.

„Die Reife, zu der wir uns zu entwickeln haben, ist die, dass wir an uns arbeiten müssen, immer schlichter, immer wahrhaftiger, immer lauterer, immer friedfertiger, immer sanftmütiger, immer gütiger, immer mitleidiger zu werden.“

– Albert Schweitzer

Gleichzeitig kann noch ein weiterer Effekt eintreten, der in seiner Brisanz durchaus unterschätzt wird, was wiederum ein Indiz für dessen Existenz ist.

Dabei denke ich an die Situation, dass der ursprüngliche Initiator der Lean-Aktivitäten (bspw. in der Geschäftsführung) das Engagement für Lean zurückfährt. Nicht selten passiert das, weil eben die genannte Reife eingetreten ist und daraus der (Irr-)Glaube entsteht, das ursprüngliche Engagement ist nicht mehr notwendig.

Diese Situation kann dann (erschwerend) davon begleitet sein, dass sich die Berichtslinie verändert, indem die Lean-Aktivitäten nicht mehr an den ursprünglichen Initiator berichtet werden, sondern an eine Person in der zweiten oder nächsten Reihe. Dabei wird in meinen Augen leider verkannt, welches fatale Zeichen damit unbewusst in die Organisation gesendet wird. Zusammenfassend fällt das für mich in die Schublade der vernachlässigten Prioritäten.

Nicht selten ist diese Veränderung dann auch zusätzlich von einer gewissen Form des Desinteresses bei der Ersatzperson begleitet, eben gepaart mit den fehlenden ursprünglichen Einsichten in die Dringlichkeit des Lean-Engagements oder einfach auch mit einem anderen Verständnis wie gutes Lean funktioniert und welche begleitenden Randbedingungen dafür notwendig sind.

Was man bei dieser Form der immanenten Zurückstufung auch nicht vergessen darf, ist das Signal an die Person(en), deren vorher direkte Berichtslinie an die Geschäftsführung ebenfalls einen nicht unerheblichen Dämpfer auf der Motivationsebene erleidet (Anmerkung: andere Personen zu motivieren ist schwierig, langwierig bis unmöglich, andere Personen zu de-motivieren geht dagegen ganz einfach und schnell).

All diese Aspekte der Reife und möglicher Konsequenzen gilt es ebenfalls zu bedenken, wenn man schon eine Weile auf der Lean-Reise unterwegs ist und Verantwortung für deren Gestaltung auf die ein oder andere Art trägt.

Abschließend kann ich alle Entscheidungsträger an dieser Stelle nur auffordern, die Lean-Reife ihrer Organisation immer bewusst und regelmäßig zu reflektieren und sich bzgl der Notwendigkeit des eigenen Engagements nicht von der vermeintlichen Reife der Organisation täuschen zu lassen.

Frage: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Lean-Reifegrad Ihrer Organisation gemacht? Wo hat die vermeintliche Reife negative Konsequenzen gehabt? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

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[1] Warum Wissen und Erfahrung ein Fluch ist
[2] Warum Erfahrung nicht unbedingt zum Ziel führt
[4] KVP – eine Frage der Reife

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