Kaizen 2 go 110 : Lean und andere Lügen


 

Inhalt der Episode

  • Um welche Art von Lügen geht's überhaupt?
  • Was sind die Ursachen dieser Lügen?
  • Was sind Auswege aus dem Dilemma?
  • Welche Rolle spielt Lean bei dieser Fragestellung?
  • Die drei grundlegenden Arbeitsmodi und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
  • Was sind Versprechen, was kann man versprechen?

Notizen zur Episode


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(Teil)automatisiertes Transkript

Episode 110 – Lean und andere Lügen

Herzlich willkommen zu dem Podcast für Lean Interessierte, die in ihren Organisationen die kontinuierliche Verbesserung der Geschäftsprozesse und Abläufe anstreben, um Nutzen zu steigern, Ressourcen-Verbrauch zu reduzieren und damit Freiräume für echte Wertschöpfung zu schaffen. Für mehr Erfolg durch Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, höhere Produktivität durch mehr Effektivität und Effizienz. An den Maschinen, im Außendienst, in den Büros bis zur Chefetage.

Götz Müller: Heute habe ich Ralf Westphal bei mir im Podcast-Gespräch. Er ist Trainer und Berater in Sachen nachhaltige Software-Produktion, als im Grunde ein bisschen ganz anderes Thema gegenüber Lean-Management. Hallo Ralf.

Ralph Westphal: Hallo Götz, danke für die Einladung.

Götz Müller: Ja, schön dass du dabei bist. Ich habe ja von dir einen Vortrag gehört und da habe ich dann auch ein bisschen provozieren Titel gewählt: Lean und andere Lügen.

Ralph Westphal: Na, so will ich das nicht sagen, dass Lean eine Lüge sei und dass es auch noch andere gebe, so wollte ich das nicht formulieren in meinem Vortrag.

Götz Müller: Ja ja, deshalb sage ich ja, provozierender Titel. Aber jetzt einfach mal zum Einstieg die Frage an dich und, du hast es selbst schon angedeutet, wie bist du auf diesen Punkt, du hast ja schon den Begriff auch Lügen in deinen Vortrag drin gehabt, wie bist du auf diesen Aspekt Lügen gekommen und was für Lügen meinst du denn dann eigentlich?

Ralph Westphal: Auf den Begriff Lügen bin ich tatsächlich gekommen, als ich nach einem Titel für den „Lean around the clock“-Vortrag gesucht habe. Ich wollte es provokant, spitz formulieren. Die Richtung, aus der ich eigentlich komme, ist die Softwareentwicklung, an der ich manchmal, na verzweifeln ist jetzt ein bisschen viel gesagt, aber doch schon manchmal einige bittere Tränen vergieße, wenn ich die Unzuverlässigkeit sehe. Ich glaube, dass die Entwicklung notorisch unzuverlässig ist und dass wir uns in den vergangenen 80 Jahren oder vielleicht auch nur 40 Jahren, viele Feinde oder zumindest keine Freunde gemacht haben dadurch, dass wir Versprechen gemacht haben und sie wieder nicht eingehalten haben und Versprechen gemacht haben und wieder nicht eingehalten haben und wenn man das zweimal macht, dann ist es, na ja, vielleicht noch Zufall, beim dritten mal wird daraus ein Muster. Und dann, würde ich sagen, kann man es besser wissen und dann fängt man mit dem Lügen an, wenn man es nicht anders tut.

Götz Müller: Ja, das sind nicht … ich habe selbst da einen Hintergrund in der Softwareentwicklung und so das Gröbste war immer irgendwo, die Sachen sind alle immer ständig zu 90% fertig.

Ralph Westphal: Ja. Ein typisches Muster oder ein Spruch, den man dazu machen kann, ja ja genau. Da können wir herzhaft darüber lachen und ein Bier drauf trinken und so weiter, aber eigentlich ist das nicht witzig.

Götz Müller: Das richtig, ja. Da wird schon manchmal auch richtig viel Geld versenkt. Und vor allen Dingen Zeit eben, was man ja im Grunde, sage ich immer, Zeitverschwendung ist die größte Verschwendung, weil alles andere kann man in irgendeiner Form zurückholen, aber die Zeit, die weg ist, die ist halt weg.

Ralph Westphal: Die ultimativ knappe Ressource sowieso, klar.

Götz Müller: Gut, aber jetzt noch mal noch ein bisschen tiefer gebohrt: was meinst du genau mit Lügen? Und dann eben auch langsam die Brücke Richtung Lean rüber?

Ralph Westphal: Lüge ist ja immer dann im Spiel, wenn ich jemanden anderen oder auch mir selber eine Realität darstelle oder vorspiegle, die so nicht ist oder noch nicht ist und dann auch noch dazu verschweige, mit welcher Sicherheit ich weiß, ob sie denn so ist oder auch nicht ist. Das mal so ganz abstrakt formuliert und ich glaube aber, wir sollten so ehrlich sein und es so abstrakt formulieren, weil dann wird uns klar, wie oft wir eigentlich lügen. Nicht nur wenn ich sage „Essen ist schon fertig“ stimmt aber gar nicht, dann kommst du gelaufen und sagst „Au, ja, wo ist es denn?“ und ich sage „Ach, jetzt habe ich nicht gedacht, dass du schon da bist. Ich brauche noch zehn Minuten.“ Das war im Grunde eine Lüge. Das ist dann verzeihlich, okay, da denken wir nicht weiter drüber nach, aber so passiert’s, wenn wir nicht aufpassen. Wenn ich dann anfange, die Wahrscheinlichkeiten mit einzukalkulieren und denke „Na ja, also wir wissen wir beide nicht, dass es nur mit geringer Wahrscheinlichkeit so nicht wird so wird“, na ja, dann weiß ich gar nicht, was du denkst und ich sage dir nicht, was ich denke dazu und dann haben wir sofort ein Missverständnis und dann haben wir einen Konflikt, sowieso früher oder später, wenn die Lüge auf den Tisch kommt. Und dann wird es schlimm. Wenn ich das wiederholt tue, das kann mir mal passieren, aber wenn ich das als Mittel benutze und da rücken wir jetzt schon in Richtung Lean, wenn ich das als Mittel benutze, um lokal zu optimieren, mir jetzt etwas leichter zu machen, dann ist der Konflikt in der Zukunft vorprogrammiert.

Götz Müller: Du bist ja da auch auf diese Dualität Führungskräfte und Mitarbeiter eingegangen. Ganz oft sind es, ich möchte den Führungskräften, ich war ja selbst mal eine, jetzt nicht den großen Vorwurf machen, aber sie wird mir ganz oft auch gefragt, Mitarbeiter schon auch, so nach dem Motto „Wie weit bist du denn, wann können wir es haben?“ Welche Rolle spielt da dieser Führungskraft und Mitarbeiter?

Ralph Westphal: Jetzt sagst du Führungskraft, den Begriff habe ich schon benutzt und der ist in aller Munde, ich unterscheide da eher noch mal genauer. Führung, Koordination und Produktion. Also wenn jemand es nicht selber tut, sondern anderen in irgendeiner Weise vorsteht, die das tun, das kann auch ein Koordinator sein und dann ist er keinen Führer, wenn so jemand gefragt wird, der ist nicht selbst tut. Tja, der lügt ja sofort. Wenn er sagt „So ist es.“, aber er weiß es gar nicht, er lügt ja sofort, wenn er sagt „Ich weiß, das können wir so tu.“, ohne irgendjemanden gefragt zu haben, der es dann wirklich tut.

Götz Müller: Da kommt mir jetzt gerade noch der andere Gedanke: Ist das eine Sache, die vor allem bei Software auftritt, die ich nicht greifen kann oder, was würdest du sagen, passieren solche Dinge auch bei Sachen, die man ganz physisch anpacken kann?

Ralph Westphal: Das passiert immer. Das hat … also, ich komme jetzt aus der Softwareentwicklung und da fällt es mir halt auf, aber der Talk war nicht umsonst auf der Lean around the clock, die nicht speziell was mit Softwareentwicklung zu tun hat. Und das ist völlig branchenübergreifend und aufgabenübergreifend. Das geht von, ich sage mal platt, von einem Bäckereifachverkäufer hin zur CEO. Jeder ist jederzeit im Risiko wieder zu lügen, wenn an ihn oder sie eine Forderung herangetragen wird, wo man sich unsicher ist, ob man das leisten kann oder nicht.

Götz Müller: Und je weiter er weg ist, was natürlich, glaube ich, auch mit der Hierarchiehöhe ein bisschen was zu tun hat, desto leichter tappt man in die Falle.

Ralph Westphal: Aber natürlich, weil man je weiter man weg ist vom konkreten Tun, mit immer höheren Unsicherheiten hantieren muss. Man weiß es ja immer weniger als derjenige, der konkret macht. Und je komplexer die Sache wird, also von einfach über kompliziert nach komplex, je komplexer es wird, desto größer auch die Unsicherheit.

Götz Müller: Das mit der Software kann ich nachvollziehen absolut. Jetzt hattest du in deinem Vortrag auch diesen weiteren … diese weitere sehr weiche Sache, nämlich den Begriff oder Begriffe an sich in Verbindung mit Lügen gebracht. Da möchte ich das noch ein bisschen hinterfragen, wie diese Gedanken bei dir entstanden ist.

Ralph Westphal: Welchen Begriff meinst du jetzt? Am Anfang die Begriffe aus dem Lean, die ich da auf einer Folie hatte?

Götz Müller: Genau. Überhaupt eben Begriffe, dass die auch schon Lügen sind.

Ralph Westphal: Ist der Begriff die Lüge? Der Begriff eigentlich erstmal nicht, der ist ja unschuldig, der ist leer, der kann nichts dafür, dass irgendetwas über geklebt wurde als Etikett benutzt wird. Das Problem entsteht, wenn man den Begriff sozusagen aushöhlt, wenn man den Begriff statt dessen, was eigentlich getan werden muss gebraucht. Wenn man mit Begriffen kommt und sagt, du musst nur … ich komme noch mal auf die Softwareentwicklung, du musst iterativ arbeiten. Okay, Iteration, wir müssen dem Begriff folgen. Du musst ein Daily Standup machen, jetzt bin ich so ein bisschen in der Scrum-Schiene drin. Okay, du musst ein Review, das ist dann vielleicht eher Clean Code. Jeden Tag solltest du auf deinen Code gucken. Ok, dann grüßt man und macht es. Dann folgt man dem Begriff, dann folgt man der Suggestion, dass der Begriff es ist. Und wenn einer das so vertritt, dann halte ich das für eine Lüge, weil wir mindestens inzwischen ja mal wissen sollten, dass es nicht der Begriff ist, sondern etwas das dahinter steht und nur grob mit einem Begriff gefasst werden kann. Es ist eine Haltung. Ich muss verstehen, was da für Prinzipien am Werk sind. Ich muss verstehen, in welchem Kontext welche Prinzipien hilfreich sind und wenn ich mich dann nur auf den Begriff zurückziehe und damit einhergehend, sagen wir mal, auf so etwas wie ein Ritual, auf Äußerlichkeiten, dann bin ich in der Lüge drin. Dann spiegle ich vor, dass eine Realität so erschaffen werden kann, weil ich das alles auf diese Handwerklichkeit, auf das Ritual reduziere und ausblende, dass der zu mehr gehört.

Götz Müller: Macht Sinn. Mir ging jetzt da gerade noch ein anderer Begriff, ich weiß nicht, ob du den kennst, die Nominalisierung, aus …

Ralph Westphal: Irgendwie kommt mir der Nominalstreit oder so ähnlich, der Scholastiker in den Kopf dabei, aber vielleicht sag noch mal, was du meinst.

Götz Müller: Nominalisierung kommt aus dem Metamodell der Sprache raus und sagt halt zum Beispiel, dass ich eben auch Begriffe plötzlich zur Sache mache. Und dann glaube, mit den Sachen etwas machen zu können, was aber gar nicht funktioniert: so nach dem Motto, Ich habe eine – wenn man in die psychologische Schiene reingeht – ich habe eine Depression. Ja, wo denn in der linken Tasche oder in der Brusttasche? Und dann passieren da auch ganz merkwürdige Sachen, ohne dass wir das jetzt weiter vertiefen, sonst könnten wir über das schon lange sprechen.

Ralph Westphal: Das finde ich auch total verständlich, es macht Sachen, die uns umgreifen, die wir quasi nur im Bauch oder im Herzen haben, die wir die schlecht fassen können, endlich fassbar. Da habe ich es jetzt. Okay, ich bin das oder besser … nicht „Ich bin das“, sondern „Ich habe das.“ Und wenn ich es in der Tasche habe, dann ist es irgendwie kontrollierbar. Aber es geht eben nicht um haben. Ich kann nicht „Agilität“ haben, sondern ich muss agil sein.

Götz Müller: Ja. Völlig richtig. So und ich habe mir jetzt hier als Stichpunkte aufgeschrieben, weil Lügen sollte man typischerweise vermeiden, wenn man nicht gerade ein notorischer Lügner ist, was ich jetzt keinem unterstelle.

Ralph Westphal: Nee, nee. Absolut nicht. Es ist total tragisch. Ich glaube, dass die allerwenigsten, so wie die allerwenigsten Verbrecher sind in der Gesellschaft, sind die aller wenigsten notorische Lügner oder machen das wirklich wirklich mit Absicht, sozusagen zum ständigen persönlichen Vorteil. Nee gar nicht. Es ist ein Drama und total tragisch, dass alle immer wieder da rein stolpern, obwohl sie ja das Gute wollen.

Götz Müller: Was ist dann dein Gedanke, wie vermeide ich das?

Ralph Westphal: Ja. Es geht. Okay, ich fang’ einfach an. Erstens. Bewusstheit. Dass es das überhaupt gibt. Also dass man das sehen kann. Dass man dafür sensibel wird, das bedeutet noch nicht, dass man es selber tut, ne, aber man kann es beobachten in der Umwelt mal mindestens. Das zweite ist, ja sozusagen, nicht den Schuh anziehen. Nicht mehr zu leugnen. Das bei sich selbst zu erkennen und zu sagen „Ja, auch ich gehe leichtfertig mit der Wahrheit um.“, sage ich jetzt mal lieber, als „Ich bin ein Lügner.“ Das klingt so sehr hart, ne, und wer will das schon von sich sagen. Also „Ich gehe leichtfertig mit der Wahrheit um.“ oder „Ich gehe leichtfertig mit der Erwartung der anderen um, was die über mich denken oder darüber denken, was ich tue. Ich nehme in Kauf, fahrlässig, sozusagen, dass es ein Missverständnis gibt.“ Okay das ist der zweite Schritt, also nicht mehr zu leugnen. Der dritte Schritt ist dann, es einfach nicht mehr zu tun. Also die Situation zu erkennen, bevor sie, also bevor das Kind im Brunnen ist, bevor man die Lüge abgeschlossen hat, zu erkennen „Hoppla, jetzt ist hier ein Fall, ich bin jetzt aufgerufen, die Wahrheit zu sagen.“, und auch dabei zu bleiben, das ist dann vielleicht der vierte Schritt, also wenn man erkennt, eben hätte ich noch sagen wollen „Du Chef, das ist bis morgen fertig.“ oder Chef, dann haben wir die Führungskraft in Bild, nehme wir die raus „Kunde, lieber Kunde, unsere Mitarbeiter werden das Problem bist nächste Woche gelöst haben.“, wohlwissend, dass ich darüber keine Aussage treffen kann, weil ich es nicht realisiere und nicht weiß, was meine Mitarbeiter überhaupt auf dem Zettel haben oder ob das überhaupt machbar ist in einer Woche, wohlwissend sage ich dem Kunden, wir werden … so wird die Realität in einer Woche aussehen. Aber dass ich das realisiere und dann sage „Stopp, Kunde, ich kann dir das nicht versprechen, ich weiß, du möchtest das in einer Woche haben, aber ich weiß nicht, ob wir das hinkriegen.“ Nein zu sagen, nein zu sagen zu dieser Aufforderung letztendlich, auch belogen zu werden oder zu lügen.

Götz Müller: Ja, da kommt mir jetzt sofort ein Punkt in den Sinn, das hast du vorhin auch als kurzes Stichwort genannt und ich denke auch in deinem Vortrag adressiert. Da steht ja der Konflikt jetzt schon fast hurraschreiend vor der Türe. Weil der Kunde ja, wenn wir das Beispiel mal aufgreifen, in der Regel von dem, dass ich ihm sage „Keine Ahnung“, im Extremfall, gar nicht begeistert sein wird oder der Vorgesetzte, der mich fragt „Wie weit bist du denn?“, wenn ich ihm sage, ich weiß es nicht. Das heißt, der Konflikt wird provoziert, ich habe irgendwann auch mal gelernt, in meiner, vor Jahren schon, vielen Jahren, Projektmanagementausbildung, Konflikte haben ja durchaus ihr Gutes. Wie gehe ich jetzt damit um, weil ich glaube, die Lüge, wenn wir es mal so nennen wollen, ist ein Stück weit auch eine Schutzreaktion.

Ralph Westphal: Also, wenn du magst, behalte im Hinterkopf, Konflikte haben etwas Gutes, darüber sollten wir vielleicht getrennt noch mal reden und gucken, wann Konflikte etwas Gutes haben, aber zunächst einmal, so, würde ich sagen „Nee, Konflikte haben nichts Gutes.“. Ein Konflikt erzeugt ja Verschwendung. Ich mache nicht die Sache, sondern ich bin auf einer anderen Ebene und drehe mich um die Sache, ohne sie voranzubringen. Im Konflikt, meine simple Definition ist, die Realität ist anders als mein Wunsch, dann ist ein Konflikt da. Ich bin auf dem Weg zu einem Ziel, wenn du mir dann Baumstamm vor meine Füße kippst, tja, das ist ein Konflikt, eine Hürde. Ich muss dann zusehen, wie ich zu meinem Ziel komme. Wenn woanders ein Baumstamm umkippt und dann kann ich rufen „Oha! Na, was passiert denn da?“, aber es ist kein Konflikt für mich, sondern höchstens ein Kontrast, hätte ich nicht erwartet, dass der Baum umfällt, aber passieren die Dinge halt. Aber vor meinen Füßen macht mir das keine Freude. Also das ist keine Sache, über die irgendjemand Hurra schreien sollte, wenn er auf einem auf dem Weg zu einem Ziel ist. Ja, du hast recht, indem ich dem Kunden sage, die Wahrheit sage, „Ich weiß nicht, ob ich das bis nächste Woche schaffe.“ erzeuge ich einen Konflikt, weil er etwas anderes erwartet, ich bin ja der Experte. Da hat er den Anspruch „Den frage ich jetzt, dem gebe ich teures Geld, der muss das jetzt wissen.“ und sage ich „Ich weiß es nicht.“, oh Gott. Ja, kann ich ihm jetzt nicht ersparen. Kann ich mir auch nicht ersparen. Vielleicht ist mein Selbstbild ja angeknackst, warum weiß ich das eigentlich nicht, müsste ich das nicht wissen? Der Kunde guckt mit treuen Hundeaugen, ich müsste es doch eigentlich, also ich muss es doch im Griff haben oder?

Götz Müller: Absolut. Und da kommt ja dann irgendwo auch wieder das Thema … du hast dann Fluss und Konflikt in Relation gesetzt. Bei Fluss sind wir dann für mich relativ schnell wieder bei Lean. Wenn du mal das noch ein bisschen ausführen kannst?

Ralph Westphal: Na das ist ja das Gegenteil, wenn ich auf dem Weg zu einem Ziel bin, ich geh aus dem Haus hier und will zum Supermarkt gehen, dann habe ich überhaupt … hier ein aktuelles Beispiel: Ich trete aus dem Haus und da ist ein Bürgersteig da und bis zum Supermarkt muss ich vielleicht eine Straße überqueren und so weiter und der Bürgersteig hier, interessanterweise, ist über die letzten Jahre stark verfallen gewesen. Da konnte ich nicht zum Supermarkt fließen, sondern ich musste andauernd Umwege gehen, weil da tiefe Pfützen waren, also wenn es mal geregnet hatte, da stand man schon bis zu den Knöcheln drin. Oder wenns Eis war, also wenn es kalt war, dann ist man da ausgerutscht und konnte nur langsamer gehen und dann habe ich … ich bin ich keinen Umweg gegangen, sondern ich bin mit Verzögerung gegangen, langsamer gegangen, sozusagen zögerlich. Also ich konnte nicht zum Supermarkt fließen und heute komme ich hier, ich war jetzt eine Woche im Urlaub, komme ich hierher und die Sachen, diese ganzen, wie heißt das Autohaus Pfützen und und Schlaglöcher und so weiter sind alle zu gekippt. Da hat jetzt einer Fluss herstellen wollen. Und die ganzen Unebenheiten, das, was für mich Konflikte erzeugt hat, ist ausgebügelt, mit welcher Qualität lass ich mal dahingestellt, aber zumindest hat einer mal Gedanken darüber gemacht, ich möchte den Leuten das ihr bequemer machen, sodass sie zügiger ihre Besorgungen ausführen können. Okay Flow, Fluss ist das Gegenteil von Konflikt. Bei Lean geht es darum, Fluss zu erzeugen. Die Produktion soll fließen. Die Produkte sollen nicht irgendwo im Stillstand sein, auf irgendeiner Halde zum Beispiel. Es sollen auch nicht zu wenige Produkte sein und die sollen auch nicht die einzelnen Produktionsstationen stehen und warten. Das ist alles nicht schön, Verschwendung. Und was ist aber das Gegenteil von diesem Fluss? Da ist für mich der Begriff Konflikt passend. Eine konfliktreiche Produktion ist eine verschwenderische Produktion.

Götz Müller: Da hatte ich mir dann, auch jetzt hier in der Vorbereitung aufgeschrieben, Lean ist Konfliktfreiheit, ich glaube, das hast du ja gerade so ausgedrückt, und da kam mir sofort dieser Gedanke mit dem ist und du hast es ja vorhin gesagt. Das Sein einerseits, so durch die Lean-Brille, und wir hatten vor einiger Zeit, ich glaube sogar schon fast vor zwei Jahren, auf einem Lean-Stammtisch mal eine Diskussion, ist dieser Zustand des Lean-Seins überhaupt erstrebenswert beziehungsweise, wenn ich dann glaube, lean zu sein, höre ich dann auf, mich zu verbessern, weil wenn ich mal irgendwas bin, dann mache ich ja nichts mehr dran und deshalb auch so ein bisschen der Bogen auf den Punkt von vorhin. Hat der Konflikt vielleicht nicht sogar sein Gutes? Weil völlig konfliktfrei zu sein würde bedeuten, ich bin hundertprozentig lean und wenn ich hundertprozentig lean bin, dann setzte ich mich auf die Couch und sage „Coole Sache, das beste der Welt, was mir passieren konnte. Ich muss ja nichts mehr machen, was Lean angeht.“.

Ralph Westphal: Ja, das ist auch richtig. Da würde ich erst mal sagen: Super. Ziel erreicht. Ausruhen. So bleiben, halten halten halten.

Götz Müller: Ja, aber die Frage ist halt: Ist Lean als Zustand überhaupt erreichbar oder ist es überhaupt erstrebenswert? Ich sage mal jetzt ganz klar: Nein.

Ralph Westphal: Doch. Ich glaube schon. Aber in Bezug auf ein Ziel willst du lean sein. Das sind jetzt erstmal die normalen Ziele. Keine Ahnung. Die Schuhe zugebunden haben, angezogen sein, zum Kaufladen gehen, von Hamburg nach München fahren oder so. Denn wenn ich da nicht fließen kann, wenn die Bahn mir einen Strich durch die Rechnung macht oder der Flieger unpünktlich ist oder was immer. Ich musste zwei Tage in Städten übernachten, wo ich nicht sein wollte, als neulich Sturm war. Das ist für mich nicht lean, das muss besser werden, da habe ich den Anspruch an die Bahn, dass sie ihre Versprechen einhält.

Götz Müller: Und damit aber eben auch nicht aufhört.

Ralph Westphal: Nicht aufgehört. Ganz genau. Das ist ihr konstantes Versprechen. Die Frage ist nur, in welchen Zusammenhängen können wir lean sein? Da behaupte ich, dass das im Grunde nur geht, erstens, wenn du handwerklich tätig bist, dann kannst du lean sein, darüber können wir reden, was ich mit handwerklich meine und zweitens, es kann sowieso nur gehen, wenn es keine Veränderung gibt. Und dann ist schon wieder die flüssige Produktion von einem Ergebnis nicht mehr so richtig möglich, sondern dann kannst du nur flüssig unterschiedliche Ergebnisse produzieren. Das ist schon wieder was anderes, dann muss ich vielleicht Flüssigkeit haben in Bezug auf Veränderung und Anpassung, das ist sozusagen so ein meta-lean. Nicht Ritalin, sondern meta-lean. Meta-Lean ist sicherlich in Zeiten der Komplexität, wenn du nicht erkennen kannst, was eigentlich Sache ist, wenn du überall und um dich herum Nebel hast, dann ist meta-lean eine gute Sache. Dann kannst du aber nicht mehr optimal lean in Bezug auf ein Ziel sein.

Götz Müller: Ja, das ist ja dieser Gedanke, eben über das Ziel hinaus diese Vision zu haben, etwas zu haben, nach dem man weiter streben kann, weil im Grunde der fast das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man das Ziel erreicht, weil: Was mache ich dann?

Ralph Westphal: Zum Glück, glaube ich, leben wir in einer Welt, wo das Erreichte Ziel nur einen Augenblick da ist und dann ist schon wieder weg.

Götz Müller: Ja, wobei ich durchaus Menschen getroffen hatte, die große Ziele hatten und die dann ein Stück weit auch in Löcher gefallen sind, wo sie dieses Ziel erreicht hatten.

Ralph Westphal: Das meine ich. Das Ziel ist erreicht und dann – was dann? Dann gibt es … dann bist du schon drüber hinaus. Dann hast du eigentlich schon ein nächstes Ziel und bei denen, die in ein Loch fallen, ist das Ziel, ein Ziel zu haben und das haben sie noch nicht erreicht. Wenn sie sich von dem erreichten, nennen wir es mal, materiellen Ziel oder greifbaren Ziel nicht zu einem neuen greifbaren Ziel flüssig entwickeln können, dann sind sie auf der Ebene nicht lean. Dann fehlt ihnen da eine Fähigkeit. Und das kann ich verstehen, wenn jemand in Rente geht, um mal so ein typisches Bild zu bemühen, der hat das sein Leben lang nicht geübt, Ziele zu definieren, sich neue Ziele zu setzen, eigene Ziele zu haben. Das ist auch eine Kunst, eine Fähigkeit, kann man auch üben. Und die kann man womöglich verlieren, alles was man ja nicht übt, verliert man, atrophiert man in der Hinsicht.

Götz Müller: Jetzt habe ich mir …

Ralph Westphal: Darf ich ganz kurz noch ein Bild? Ich habe ja gesagt, ich war eine Woche im Urlaub und ich war in Bulgarien. Und in Bulgarien ist mir etwas aufgefallen. Erstens, dass es da total sauber ist, ne, ich war hin und weg, Wahnsinn, hätte ich nicht gedacht, also viel sauberer als hier. Aber dann ist mir noch was aufgefallen, es war sauber, aber es war in ganz vieler Hinsicht verfallen. Häuser waren verfallen, Wege waren verfallen, also das war irgendwie unschön. Sieht traurig aus. Grau. Braun. Aber es war sauber, das hat das durchaus wieder wettgemacht. Die Wege waren verfallen und ich habe ja gerade von dem Weg hier zum Supermarkt gesprochen, der war hier auch ein Stückchen verfallen. Und dann haben sie jetzt da Sand reingeschüttet, sodass er wieder glatt ist, sodass ich zu meinem Supermarkt fließen kann. Einerseits mag ich das, aber andererseits war ich in Bulgarien und habe gedacht „Wie cool ist das denn, dass die Wege hier, ich meine Bürgersteige, dass die so verfallen sind?“ Denn, was ich gemerkt habe, dass ich bei den verfallenen Bürgersteigen sehr viel aufmerksamer war. Ich brauche kein Aufmerksamkeitstraining, mindfulness oder sowas, Achtsamkeit, musste ich gar nicht üben, sondern ich war ganz natürlich achtsam, weil ich aus dem Haus trat und musste schon gucken, wo setze ich meinen Fuß hin. Und das hat mir eigentlich gezeigt, dass wir uns nicht einen Gefallen tun, alles glatt zu polieren und in Bezug auf ein Ziel komplett lean oder flüssig zu haben, sondern wir tun durchaus gut daran, die Dinge auch mal unrund zu haben, manche Dinge eben nicht zu polieren, so wie diesen Gehweg. Da habe ich gedacht, ja hier kommst du mit dem Rollator nicht lang, aber wenn du einen Stock hast, dann kannst du ja auch gehen.

Götz Müller: Ja, das lässt sich gut nachvollziehen, ja. Spannend. Ich habe hier noch einen Punkt, der mir definitiv von deinem Vortrag im Gedächtnis geblieben ist, du hast auch gegenübergestellt, einerseits in Lüge und anderseits das Versprechen. Und dann eben, habe ich mir notiert, die Frage: Was kann ich versprechen, was kann ich nicht versprechen und was hängt damit zusammen? Das würde ich noch gerne bisschen vertiefen.

Ralph Westphal: Also wenn ich dir etwas verspreche, zum Beispiel, ich komme dich morgen besuchen, dann bist du enttäuscht, wenn ich dich morgen nicht besuchen komme, zumindest setzte ich voraus, du hättest dich gefreut, dass ich vorbeikomme und vielleicht noch eine Schokolade mitbringen oder so. Dann bist du enttäuscht. So weit, so gut erstmal oder so schlecht. Die Enttäuschung kann passieren. Ich komme morgen nicht, aber warum denn nicht? Tja weil vielleicht der Zug ausgefallen, vielleicht bin ich auch krank geworden. Da kann man nichts machen, Wir haben etwas verabredet, du hast schon was eingekauft, wir wollten ein Bierchen trinken und dann komme ich einfach nicht. Okay, hat aber seinen Grund. Wenn ich jetzt aber dir verspreche, ich komme morgen vorbei, weiß aber schon, dass ich keine Zeit habe, weiß schon, dass ich das nicht schaffe werde, weil mir ein Verkehrsmittel fehlt, weiß schon, dass ich das einfach handwerklich nicht drauf habe, das Versprechen einzuhalten, dann ist das eine Lüge. Dann habe ich vielleicht jetzt, da du gerne wolltest, dass wir morgen mal ein Bierchen trinken, was optimiert, ich habe dich jetzt nicht enttäuscht. Ein Glück. Bin aus der Nummer raus. Aber morgen haben wir den Konflikt, dann muss ich morgen irgendeine Entschuldigung finden, damit du morgen nicht enttäuscht bist. Irgendwann muss ich da mit dealen. Okay und dieses, das war jetzt ein konstruiertes Beispiel, aber das passiert ja jeden Tag. So simpel wie: Ich rufe Dich morgen an. So simpel wie, eine Behörde hat eine E-Mail-Adresse, eine öffentliche, der schreibe ich eine E-Mail mit einer Anfrage und die melden sich nicht. Das ist ein gebrochenes Versprechen. Die lügen, wenn sie da eine E-Mail-Adresse hinschreiben und damit suggerieren, wir antworten dir per E-Mail, wir sind erreichbar per Email und antworten dir auch.

Götz Müller: Kann man dann aus dem jetzt ableiten, dass man im Grunde nicht so sehr drauf aufpassen muss, nicht zu lügen, sondern vielmehr darauf aufpassen muss, keine Versprechungen zu machen?

Ralph Westphal: Nee, du sollst nicht keine Versprechungen machen, wie ich im Vortrag gesagt habe, ihr sollt alle sozusagen, alle, wir alle Sachen mehr Versprechen machen. Weil Versprechen, und zwar eingehaltene Versprechen, sind totale Schmiermittel, dann flutscht die Sache nämlich, wenn ich weiß, wann ich mich auf dich verlassen kann, wenn die Oberfläche, die ich von dir sehe, die verlässlich ist, größer wird, wow, dann können wir wirklich zusammen tolle Dinge machen. Und wenn ich auch sehe, wo eine Grenze ist, wenn ich bestimmte Dinge von dir weiß, wo ich mich nicht auf dich verlassen kann, ist auch okay, keine Kritik, weiß ich einfach nur, dafür ist der Götz halt nicht da.

Götz Müller: Aber eben auch Punkte, wo ich selber das Bewusstsein haben muss. Wo ich aber selber wieder, entsprechend der vier Punkte von vorhin, wieder das Bewusstsein haben muss.

Ralph Westphal: Ja, aber natürlich muss ich Bewusstsein darüber haben, was ich versprechen kann überhaupt. Das ist mir sehr wichtig, also lügen kann man ja nicht in Bezug auf viele Dinge, aber die wiederkehrende, wirklich notorische Lüge in der Softwareentwicklung, mal mindestens, aber auch sonst in vielen Bereichen des Lebens, ist eben die Lüge in Bezug auf das, was man leisten wird in Bezug auf das Versprechen. Man verspricht sehr leichtfertig etwas und denkt, na ja. Das kann ich sowieso nicht, das erwartet der auch gar nicht, dann ist man aber unsicher, vielleicht erwartet er das doch. Irgendwie kann ich später damit dealen, dass ich dann doch nicht so das gemacht habe, wie ich es versprochen habe. Das tun wir sehr, sehr leichtfertig. Wir tun es, ohne dazu ein Etikett zu kleben mit einem Risiko zum Beispiel, mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit kann ich dir den Bug bis morgen fixen. Oder mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit. Dann würde ich sofort fragen: Woher weißt du denn das? Woher kommt denn diese Wahrscheinlichkeit? Auf was für Daten basierst du diese Risikoanalyse? Fünfzig-Prozent-Bugfixing-Wahrscheinlichkeit bis morgen oder bis nächste Woche. Dann sitzen die Softwareentwickler in trauter Runde beim beim sprint-planning- Meeting und sagen „Yay, diese 5 User Story schaffen wir bis Ende der Woche.“ – ja, mit welchem Risiko? Mit welcher Wahrscheinlichkeit? Woher kommt denn das? Da können sie dreimal die Story points heben. Keine Ahnung woher diese Sicherheit kommt.

Götz Müller: Da hätte ich jetzt spontan gesagt, hat was mit Erfahrung zu tun, oder?

Ralph Westphal: Das ist eine tolle Sachen mit der Erfahrung, die in deinem Bauch ist. Ich frag dich noch mal, was ist die Wahrscheinlichkeit. Ist die 100%, ist sie 90%? Wenn Sie 50% ist? Tja das ist quasi ein Münzwurf. Wie viel willst du auf den Münzwurf setzen, wenn du das weitergeben musst? Der Product Owner sitzt da und sagt „Schaff ihr diese 5 Stories?“, dann sagen sie alle: „Ja, ja schaffen wir.“ Okay, schön. Jetzt muss ich es jemandem sagen. Der will es ja wissen aus einem Grund, weil der sich auch danach richten will, sage ich dem mit 50% Wahrscheinlichkeit – „Wie jetzt? Münzwurf.“ Sage ich dem das mit sechsundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit, okay. Wann im Leben sind wir mit sechsundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit unterwegs? Wahrscheinlich sehr häufig. Das ist etwas, was ich von Handwerkern erwarte. Der kommt zu mir, macht eine Abschätzung, „Aha, okay, das Klo ist in einer Stunde nicht mehr verstopft.“, dann komme ich nach einer Stunde wieder, dann sagt er „Noch 2 Minuten.“ und dann ist es auch fertig. Gut. Das ist die Wahrscheinlichkeit, das Risiko, das ich haben will, aber nicht, dass ich in einer Stunde komme und der sagt „Tschuldigung, dauert doch noch bis morgen.“

Götz Müller: Ja. Du hast diesen Punkt Handwerker mehrfach erwähnt. In deinem Vertrag hast du ja auch zwischen den drei Arbeitsmodis verglichen und ich fand es auch sehr spannend und ich denke mir, also war zumindest während dem Vortrag von mir von mir ein Gedanke, es ist ein Stück weit auch ein Ausweg, eben wieder zumindest als allererstes, sich mal über diesen Unterschied bewusst zu sein. Bin ich Handwerker oder bin ich einer von den zwei anderen?

Ralph Westphal: Ausweg, weiß ich nicht. Ich halte es für ein wesentliches Werkzeug für das Leisten von versprechen. Wenn ich nicht weiß, was ich in Bezug auf eine Tätigkeit bin, dann kann ich überhaupt gar kein Versprechen machen. Also um es ganz kurz zu sagen, Handwerker ist die derjenige, der tatsächlich Ergebnisversprechen machen kann. Der kann sagen „Morgen bin ich mit einer Sache fertig.“, weil er so oft getan hat, weil er wirklich in Bezug auf diese Sache so viel Erfahrung hat und den Kontext abschätzen kann und seine Werkzeuge kennt, dass er dieses Versprechen machen kann. Okay, und deswegen gibt's auch ganze Berufsgruppen, die Handwerker heißen, weil sie mit solchen Sachen zu tun haben, wo man solche Abschätzung abgeben kann. Aber wenn das größer wird, ne, eine Elbphilharmonie in Hamburg, da waren ganz viele Handwerker dabei, ja, ja schon, aber all diese Handwerker zusammengenommen konnten trotzdem keine genaue Schätzung abgeben. Einen politischen Aspekt bei dem Ganzen lasse ich mal außen vor, vielleicht gab’s einen, der hat gesagt, das kostet sowieso 3 Milliarden oder wie viel es gekostet hat, aber wir sind in ganz vielerlei Hinsicht, Tag für Tag nicht in der Lage, die Sachen handwerklich zu erledigen. Das beginnt bei einer Sekretärin, da kommt der Chef und sagt „Bitte überarbeiten Sie für mich doch mal hier meine PowerPoint-Präsentation.“ Die Assistentin soll das für ihn mal machen und sie sagt „Was soll ich denn tun?“ – „Ja, dies und das und jenes, gucken Sie mal durch, aber in einer Stunde ist das bitte fertig.“ Was weißt die denn, ob das in einer Stunde fertig sein kann, hat sie noch nie gemacht für den Chef und dann sagt sie „Ja, selbstverständlich.“ Das geht nicht, das ist eine Lüge, weil da die Wahrscheinlichkeit fehlt. Sie kann nicht sagen mit welcher Wahrscheinlichkeit sie diesen Zustand der Welt hergestellt haben wird. Die wahrscheinlich nur bei 20 % oder 10. Whatever. Okay, wenn ich nicht Handwerker bin, dann bin ich etwas anderes. Dann bin ich in einer Situation, wo ich erstmal herauskriegen muss was Sache ist, dann bin ich Forscher. Forscher finden heraus, was schon ist, die analysieren, die erheben Wissen. Kinder sind Forscher und wenn sie herausfinden, wie wir das mit dem Murmelspiel geht oder wie Radfahren funktioniert, dann forschen sie gerade, bis sie das können und dann sind sie Handwerker. Nur wenn sie Rad fahren können, dann kann man ihnen sagen „Wie lange brauchst du von hier bis dahin?“ und sagt „30 Sekunden, weil ich so schnell fahren kann.“. Okay. Oder, wenn ich schon alles erforscht habe, dann muss ich mir vielleicht einen Plan machen, dann bin ich Ingenieur. Ich weiß zwar eine Menge Sachen aber ich muss mir das noch zurechtlegen, in welcher Reihenfolge oder in welcher Konfiguration die Sachen passieren soll. Und da muss ich mir erst mal Gedanken machen und ich weiß nicht, wann ich fertig bin, mit diesen Gedanken, wann der Plan fertig ist. Auch das passiert täglich oft genug, dass wir Pläne machen müssen. Und dann kann man nicht sagen: „Ich weiß schon, wann es fertig ist, inklusive der ganzen Analyse, inklusive der ganzen handwerklichen Tätigkeit, weiß ich schon wann es fertig ist.“ Nein, das geht nicht. Ich bin da, tut mir leid, ich bin da sehr sensibel geworden über die Zeit in der Softwareentwicklung. und ich sehe es wirklich als notorisches Problem, das, ich weiß nicht, ob es von unten nach oben geht, oder von oben nach unten kommt. Ich glaube eher, es kommt von oben nach unten. Irgendeiner fühlt sich durch jemand anderes erpresst, irgendeiner kann den anderen nicht leiden sehen. Er sagt: „Wenn ich dem jetzt sage, wie es wirklich ist, dann ist er ganz, ganz traurig und dann kauft er bei mir nicht.“

Götz Müller: Wobei ich mal nicht unterschätzen würde, dass da ein ganz erheblicher Teil von, nennen wir es mal Selbstschutz dabei ist, eben genau dieses „Dann kauft er eben nicht und deshalb, ja, verspreche ich ihm vielleicht etwas, was ich dann aber am Ende nicht halten kann.“

Ralph Westphal: Das glaubt man, besser händeln zu können, den Konflikt am Ende. Hauptsache, der Auftrag ist erstmal in der Tasche. Hauptsache, der Chef sagt jetzt „Okay, mach mal.“ Lieber hinterher um Verzeihung bitten als jetzt um Erlaubnis, nicht genau sagen zu können, wann’s fertig ist.

Götz Müller: Was ja durchaus immer mal wieder auch ein Typ ist, der mich nicht das erste Mal begegnet, so nach dem Motto „Bitte nicht um Erlaubnis, sondern bitte lieber hinterher um Verzeihung.“ Weil nur dadurch zum Teil auch neue Dinge entstehen.

Ralph Westphal: Ja. Das würde ich aber nicht im Zusammenhang mit Versprechen so als Tipp abgeben, sondern eher im Gegenteil, im Zusammenhang mit Experimenten.

Götz Müller: Ja. Klar.

Ralph Westphal: Und ein Experiment ist eine Forschungstätigkeit.

Götz Müller: Genau.

Ralph Westphal: Also nicht fragen, ob du das Experiment nachmachen darfst, mal von zu Hause arbeiten, sondern einfach tun und dann den hinterher um Verzeihung bitten und zu sagen: „Guck mal, Chef, hat doch alles geklappt.“ Das sehen wir auch im Film, ne, Helden machen ganz viel in Filmen, hätten sie lange gefragt, hätten sie es nicht getan, aber hinterher kriegen sie trotzdem den Orden und alle sind gerettet. Super.

Götz Müller: Das heißt, wenn wir mal so ein bisschen den Bogen am Ende schließen, zu dem Bewusstsein vom Anfang und zu dem eigenen Arbeitsmodus und zu dem, was ich verspreche. Was ist denn so dein Tipp, was darf ich versprechen, was darf ich nicht versprechen?

Ralph Westphal: Was ist mein Tipp? Okay, jetzt Tipps und Tricks. Was kann ich in die Tasche stecken?

Götz Müller: Genau.

Ralph Westphal: Was kann ich versprechen? Ich kann alles Mögliche versprechen, muss nur wissen, ob ich ein Ergebnisversprechen, dazu fähig bin, das auch einzuhalten, Ergebnisversprechen ist das handwerkliche Versprechen. Da muss ich wirklich genau hingucken. Und mein Typ ist da: Tu es eher nicht. Sei ganz sensibel und im Zweifelsfall eher lieber, nein, mach kein Ergebnisversprechen, sondern, also nicht in Bezug auf die Sache ein Ergebnisversprechen, „Das Essen ist in zwei Stunden gekocht“. Das ist ein Ergebnisversprechen, sondern mach ein, ich nenne es Aufmerksamkeits- oder Verhaltensversprechen. Dann sagst du nur „Okay, ich habe ja eine Sache im Griff.“, behaupte ich jetzt erstmal oder es sollte zumindest sein, wenn du professionell arbeitest, dann hast du eines im Griff, das ist dein Kalender. Das ist deine Zeit. Dann machst du ein Versprechen in Bezug auf deine Zeit. Ich kann so und so viel Zeit in das und das investieren. Zum Beispiel kann ich jetzt zwei Stunden in die Vorbereitung eines Abendessens investieren. Ich kann dir nicht versprechen, ob das fertig ist, aber ich kann dir sagen, dass ich jetzt zwei Stunden garantiert in das Abendessen investiere. So ein Versprechen kann man jederzeit machen. Wunderbar, ganz toll und es ist doppelt toll, weil du damit nämlich an das Problem ran kommst, wirklich zu erkennen, ob du überlastet bist. Die Leute sind ja vielfach überlastet, wissen nicht, wo ihr Kopf geht. Sind immer abends geschafft, ohne etwas geschafft zu haben, weil sie nicht wissen, was sie alles tun, wo ihre Aufmerksamkeit war, weil sie keine vernünftige Aufmerksamkeitgestaltung betreiben. Sie sagen eben nicht dem einen „Okay, für dich eine Stunde.“, dem nächsten „Für dich eine halbe Stunde.“, dem nächsten „Für dich eine Stunde.“, dem nächsten „Für dich noch mal eine Dreiviertelstunde.“, und dem nächsten sagen sie dann gar nichts. „Ich habe keine Zeit mehr.“ sagen sie dann. „Ist alles verplant.“ Sondern jeder wird an Bord genommen, „Ja, dich nehme ich auch noch mit, ja dich auch noch.“ und so haben sie 15 Sachen auf dem Zettel und wissen gar nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Zu Recht. Dann kann man kein Versprechen machen, nicht mal eines in Bezug auf einen Kalender und das ist höchst unprofessionell.

Götz Müller: Da waren jetzt … war eine ganz andere Episode heute, waren aber unheimlich spannende Aspekte drin. Es hat sich definitiv gelohnt, dass ich dich nach dem Vortrag angesprochen habe.

Ralph Westphal: Schön. Ja, vielen Dank, Götz.

Götz Müller: Und deshalb auch noch mal vielen Dank, dass du dabei warst.

Ralph Westphal: Ja.

Götz Müller: Ok. Hat mich gefreut, ist für mich auch immer wieder schön, das noch mal durch Fragen sozusagen zu reflektieren und noch mal darüber zu sprechen, dann ergeben sie bei mir auch neue Gedanken, komme ich auch auf neue Bilder, das macht er macht mir auch Spaß. Danke schön.

Ralph Westphal: Okay, ja. Ich danke dir.
Götz Müller: Das war die heutige Episode im Gespräch mit Ralf Westphal zum Thema Lean und andere Lügen. Notizen und Links zur Episode finden Sie auf meiner Website unter dem Stichwort 110.

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Ich bin Götz Müller und das war Kaizen to go. Vielen Dank fürs Zuhören und Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten Episode. Und denken Sie immer daran, bei allem was Sie tun oder zu lassen, das Leben ist viel zu kurz, um es mit Verschwendung zu verbringen.

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