Kaizen 2 go 137 : Lean in einer fortgeschrittenen Umgebung


 

Inhalt der Episode

  • Was unterscheidet Lean in einer fortgeschrittenen Umgebung bzw. Organisation von dem Lean, das sich noch am Anfang der Reise befindet?
  • Wie verändern sich die Rollen von Mitarbeitern und Führungskräften im Bezug zu Lean?
  • Welche neuen Herausforderungen entstehen, wenn man schon einige Jahre auf der Lean-Reise ist? Wie geht man mit diesen Herausforderungen um?
  • Tipps, damit Lean nicht einschläft?
  • Was unterscheidet Lean in Bereichen außerhalb der Produktion von dem Produktions-Lean?
  • Was lässt sich daraus auf Nicht-Industrie-Unternehmen übertragen?
  • Welche Fehler wurden zu Beginn der Reise in heute gesetzten Unternehmen gemacht, die man vermeiden sollte.
  • Was unterscheidet das Lean der 1990er-Jahre von dem der 2000er und 2010er?
  • Was werden die 2020er bringen? Welche Rolle bzw. welchen Einfluss wird die Digitalisierung auf Lean haben?

Notizen zur Episode


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(Teil)automatisiertes Transkript

Episode 137 – Lean in einer fortgeschrittenen Umgebung

Herzlich willkommen zu dem Podcast für Lean Interessierte, die in ihren Organisationen die kontinuierliche Verbesserung der Geschäftsprozesse und Abläufe anstreben, um Nutzen zu steigern, Ressourcen-Verbrauch zu reduzieren und damit Freiräume für echte Wertschöpfung zu schaffen. Für mehr Erfolg durch Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, höhere Produktivität durch mehr Effektivität und Effizienz. An den Maschinen, im Außendienst, in den Büros bis zur Chefetage.

Götz Müller: Heute habe ich Alex Gärtner bei mir im Podcast-Gespräch. Er ist Trainer und Berater für schlanke Produktion. Hallo Alex.

Alex Gärtner: Hallo Götz.

Götz Müller: Schön, dass das heute klappt. Sag noch zwei, drei Sätze selber, damit die Zuhörer sich vorstellen, was du trainierst, was du berätst und wie du auch schlanke Produktion verstehst.

Alex Gärtner: Alles klar. Also ich bin seit ungefähr zwanzig Jahren im Bereich Lean unterwegs, bin seit circa sechs Jahren Berater für schlanke Produktion und Trainer für die Personen, die beraten möchten, also Trainer für Berater. Ich habe diese Position in einem großen Automobilunternehmen inne und mache das da eben hauptberuflich. Und ich bin eben schon relativ lange, ohne dass ich es wusste, in Sachen Lean unterwegs, weil wir, eher eine traurige Geschichte, auch ein eigenes Unternehmen hatten, ein Familienunternehmen, welches Konkurs gegangen ist und ich reflektiere natürlich das Erlebnis immer wieder mit den Erlebnissen, die ich dort hatte und was ich hätte tun können, wenn ich das Wissen, was ich heute habe, dort angewendet hätte und so wäre es heute wahrscheinlich eine florierende Firma, aber das prägt mich und deshalb ist für mich das Thema Herzensangelegenheit und deshalb lebe ich das auch in allen Bereichen, also sowohl privat als auch geschäftlich.

Götz Müller: Ja, ich glaube, das geht den meisten … wo du zwanzig Jahre gesagt hast, ist mir dann … oder dieses Jahr ist mir auch klar geworden, das erste Mal mit Lean bin ich auch vor zwanzig Jahren, ich sag’ immer am Ende des letzten Jahrtausends, in Berührung gekommen. Jetzt hast du schon ein kurzes Stichwort gesagt: großer Automobilkonzern. Und das ist ja auch unser Thema der heutigen Episode, ich habe es fortgeschrittene Umgebung genannt, also fortgeschritten, was Lean angeht, und da finde ich das jetzt gut, den Bogen, den du schon zum Anfang geschlagen hast – was unterscheidet deiner Ansicht nach Lean in dieser fortgeschrittenen Umgebung von Lean in einem Unternehmen, das sich noch ganz am Anfang befindet?

Alex Gärtner: Ja, also die Frage ist sehr gut, die kommt auch immer wieder. Grundsätzlich kann man es ganz einfach sagen, die Früchte hängen einfach immer höher. Man hat untenrum alles abgeerntet und muss jetzt hochkraxeln und muss jetzt wirklich suchen, dass man dann die Verbesserungen noch findet. Es hört … wie wir alle wissen, steckt ja im KVP drin, dass es niemals aufhört, aber es wird schwierig, man muss höher klettern in dem Baum und man muss die Früchte wirklich suchen. Das ist, sage ich mal, die technische Änderung. Was aber in Sachen Kultur sich ändert, ist … also wenn man es geschafft hat, jetzt beispielsweise vor zwanzig Jahren, wenn ich das angucke, eine Kultur der schlanken Produktion oder des KVPs zu implementieren, dann hat man natürlich eine gewisse Stabilität erreicht, die es einem leichter macht, Dinge umzusetzen. Wenn man es aber versäumt hat, vor zwanzig Jahren, ich spreche rein hypothetisch, die Kultur mit einzubeziehen, also sprich die Menschen zu prägen und die Menschen, den Menschen dieses Gen mitzugeben, möchte ich jetzt mal nennen, dann wird die Gesamtheit eher träge und müde, und dann wird es auch schwer, Dinge noch umzusetzen, weil man am Anfang vielleicht die ein oder andere falsche Biegung genommen hat. Das ist also der kulturelle und der menschliche Aspekt von dieser Länge der Zeit.

Götz Müller: Ja, da fällt mir sofort eben ein, ein Kollege hat das mal, wie ich finde, sehr treffend gesagt, im Grunde war vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren das Thema Lean bei vielen großen deutschen Unternehmen, doch zu einem ganz erheblichen Teil eine Arbeitsplatzabbaumaßnahme. Vielleicht nie so ausgedrückt, aber faktisch doch so gewesen. Und da nehme ich halt jetzt persönlich, egal, wo man hinkommt, immer wieder Vorbehalte, also Widerstand wirklich, wahr. Wie geht es dir damit?

Alex Gärtner: Genau. Also habe ich auch so wahrgenommen. Jetzt nicht unbedingt als Abbaumöglichkeit von Arbeitsplätzen, vielleicht eher mit der Motivation zu sagen „Okay, in Japan ist das Ganze erfolgreich, da muss was dran sein und jetzt kopieren wir das mal und gucken, dass wir die Elemente, die dort umgesetzt sind, auch bei uns umsetzen, also eine 1-zu-1-Kopie machen von dem Ganzen.“, aber wiederum die Kultur und die Philosophie dahinter, die wurde parallel nicht mitkopiert, was sehr gut beschrieben ist in dem Buch Toyota Kata von Mike Rother, kann ich nur empfehlen in dem Kontext. Da wird genau dieses Spannungsfeld sehr schön beschrieben, dass man eben genau das, was diesem Lean Manufacturing und diesem Toyota-Produktionssystem zugrunde liegt, nicht beachtet hat für eine sehr lange Zeit, sondern nur diese technischen Aspekte.

Götz Müller: Ja. Was würdest du sagen, wenn man diesen Wandel also von dem „Ich bin noch am Anfang“ dann zur fortgeschrittenen Umgebung, mal davon abgesehen, dass dann die Früchte höher hängen, wie verändern sich deiner Ansicht nach die Rollen und Mitarbeitern und Führungskräften in Bezug zu Lean?

Alex Gärtner: Wenn das, und das ist eben die Voraussetzung, dass man diese Lean-Kultur aufgebaut hat, dann wandelt sich das, ich würde sagen von der klassischen Führung, in der man dem Mitarbeiter sagt „Mach mir bitte Projekt ABC bis zu dem und dem Zeitpunkt fertig“, also rein von diesem Organisatorischen hin zur Begleitung und zum Coaching, also auch wiederum zu diesem Toyota Kata, also sprich die Führungskraft bietet Hilfe und Unterstützung und fördert und fordert die Menschen. Das hört sich sehr rosarot an, aber das ist genau der Punkt, der sich dann ändert. Also man hat dann nicht mehr eine Kultur der Ansage – „Du machst jetzt.“ – sonst man hatte eine Kultur des „Wir schaffen das gemeinsam.“ sozusagen.

Götz Müller: Ja. Stehe ich voll dahinter. Wobei ich da halt immer mal wieder auch, gar nicht mal so selten im Grunde, wahrnehme, dass sich da viele schon mit schwertun mit diesem veränderten Führungsverständnis, also auf Seiten der Führungskräfte und auch so, auch wenn sie es nie so deutlich sagen, auf Seiten der Mitarbeiter, so nach dem Motto „Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, dass jetzt die Führungskraft plötzlich sich verändert.“, weil wir reden ja im Grunde immer noch über ein und dieselbe Person.

Alex Gärtner: Genau. Ja. Also das ist der Effekt dessen, dass wir ja, historisch gesehen, relativ jung sind, was das Lean anbelangt. Also zwanzig Jahre sind ja im Vergleich zu dem, wie lange es Toyota schon macht, ein relativ kurzer Zeitraum. Und in diesen zwanzig Jahren haben wir uns ja auch nicht die ganze Zeit darum gekümmert, die Kultur aufzubauen. Das heißt also, wir haben uns auf diesen technischen Aspekt konzentriert und da wurde eben dieses Coaching und diese Begleitung nicht in den Fokus gerückt, das heißt, die Mitarbeiter sind es nicht gewöhnt. Wir fangen eigentlich erst seit fünf, bis maximal zehn, Jahren an, auch diese Coaching-Kultur und diese Kultur der Begleitung mit aufzubauen und das ist klar, dass die Leute noch anders geprägt sind und das nicht immer glauben, wenn die Führungskraft dann da steht und sagt: „Okay, wie kann ich dir helfen, das fertigzumachen?“. Das klingt dann eher wie eine verpackte Aufforderung als eine wirkliche Hilfe. Und das erlebe ich auch immer wieder, ja.

Götz Müller: Ja. Was ist da dein Tipp, vor allen Dingen, glaube ich, an die Führungskräfte, damit die Mitarbeiter das glauben, um es mal so auszudrücken?

Alex Gärtner: Ja, also „Walk the walk.“ und „Talk the talk.“, im Wahrsten Sinne, das heißt also vorleben und dazu muss die Führungskraft verstanden haben, was das System ist und warum das Ganze so sein muss, wie es sein muss. Das heißt konkret, sie müssen davon überzeugt sein, dass sie mehr erreichen können, wenn sie die Mitarbeiter zum Ziel coachen und Leiten als wenn sie eine Ansage machen und das ist heute im Bereich der Führungskräfte noch nicht stark ausgeprägt. Zumindest nicht bei denen von der Generation vor, sage ich mal, fünfunddreißig Jahre grob, fünfunddreißig, vierzig Jahre – Alter. Da sind die Führungskräfte einfach noch geprägt von dem alten Stil, der da hieß „Du machst das jetzt bitte so und dann gibst du mir zum soundsovielten die Rückmeldung“. Und die lassen sich auch nur schwer dann überzeugen, dass es diese Kultur des Coaching braucht, um eben den nächsten Schritt zu machen, um die nächste Stufe zu erreichen.

Götz Müller: Ich glaube persönlich, weil ja zum Teil dieses, ich nenne es jetzt mal ein bisschen flapsig, dieses moderne Heldentum als Manager sie ja oft erst in diese Rolle gebracht hat, oder? Und dann so etwas loszulassen stelle ich mir nicht ganz einfach vor.

Alex Gärtner: Genau. Und dann auch diese, ich nenne es jetzt mal Demut, auch mal zuzugeben, dass man auf dem falschen Weg ist oder vielleicht sogar, das ist noch viel schwerer, die eigene Idee zurückzuhalten und den Mitarbeiter draufheben auf diese Idee und sie dann praktisch ihm die Lorbeeren gewähren lassen, das ist besonders schwer, gerade für diese Führungskräfte. Eigentlich ja für jeden Menschen, wenn man es mal ganz nüchtern betrachtet, aber für diese Menschen natürlich ganz besonders, weil sie es gewöhnt sind, wie du es gesagt hast, die Lorbeeren einzuheimsen, wenn sie auf ihrem Bereich gewachsen sind.

Götz Müller: Ich nenne es immer ein bisschen flapsig „Lerne zu schweigen, ohne zu platzen.“

Alex Gärtner: Ja. Genau. Das passt sehr gut.

Götz Müller: Jetzt möchte ich noch mal zu dem Punkt zurück, den du vorhin auch schon zum Teil ausgeführt hast, ich möchte es noch ein bisschen vertiefen. Was für neue Herausforderungen entstehen deiner Meinung nach allein über rein diese Ebene der Früchte und wie hoch sie hängen, wenn ich halt schon eine Weile unterwegs bin, und wie gehe ich dann mit den Herausforderungen am besten um?

Alex Gärtner: Ja. Also, ich habe es mit der Kultur ein bisschen anklingen lassen. Wenn die nicht stabil ist, dann gibt es die Gefahr, dass man einfach müde wird. Als Gesamtorganisation, aber auch als Einzelperson. Wenn ich jetzt mich persönlich anschaue, dann kommt es mir auch manchmal vor, dass ich Dinge nicht jeden Tag so wach beobachte, wie ich sie in der Vergangenheit vielleicht beobachtet habe. Das heißt, konkret die acht Verschwendungsarten fallen mir vielleicht nicht mehr so konkret auf, wie sie mir schon aufgefallen sind. Da muss ich mir also Tricks aneignen, damit ich scharf bleibe sozusagen, also damit ich diesen klaren Blick bewahre. Da gibt es gute Möglichkeiten, aber das ist absolut kritisch, weil sonst schläft die Gesamtorganisation ein, wenn die Leute, die das praktisch stabilisieren, da nicht mehr voll dahinter stehen.

Götz Müller: Da möchte ich noch ein bisschen weiter bohren. Da wäre so ein Tipp, damit Lean nicht einschläft, damit man sich selber wachhält, also außer jetzt Kaffee reinzuschütten?

Alex Gärtner: Das ist auch ein gutes Stichwort. Also ich mache es wirklich so, dass ich mir jeden Tag sozusagen als Standard einen KVP, d.h. also, ich habe eine Standard-Checkliste, das hört sich sehr nüchtern an, aber ich habe eine Checkliste, die mir Spaß macht, sie umzusetzen und da ist ein Punkt, jeden Tag einen kleinen KVP zu machen und zwar, eigentlich sind es zwei, einen in meinem Umfeld, also Schreibtisch oder wo auch immer ich mein Werk tue, als auch innerhalb dieses schwarzen Kastens, den die meisten von uns auf dem Tisch stehen haben, also sprich PC oder Laptop. Diese beiden Bereiche mache ich jeden Tag ohne Unterlass und das ist manchmal sehr anstrengend, aber das hilft mir einfach, um zu sagen „Okay, ich werde heute wieder etwas finden, um wieder etwas besser zu werden.“ und dadurch, dass ich das als Standard oder Gewohnheit habe, ist es auch so ein bisschen Sportsgeist. Wenn ich es nicht machen würde, dann würde mir da wirklich etwas fehlen. Ich habe es heute vergessen oder nicht gemacht, das kommt natürlich auch vor, aber es ist eher selten. Mir macht es wirklich Spaß und wenn ich dann auch etwas umgesetzt habe, was auch von außen sichtbar ist, hat es wiederum den Effekt, dass die Leute drumherum sehen „Was hast den du da für Dinger auf deinem PC kleben?“ oder „Was hast du denn da wieder verändert?“ und „Warum hängt das denn so da?“ und das motiviert mich dann auch wiederum weiter, da in diese Richtung zu gehen. Also das ist praktisch so eine Art Perpetuum mobile, das ich mir selbst geschaffen habe durch den täglichen Standard und auch durch den Spaß, den ich dadurch habe und auch anderen vermittle, also den meisten zumindest. Manche halten mich deswegen für verrückt, aber die meisten finden die Ideen sehr gut und machen auch mit.

Götz Müller: Ja, ich glaube, den Punkt muss man … in irgendeiner Form muss man den früher oder später überwinden.

Alex Gärtner: Genau.

Götz Müller: Ich könnte mir vorstellen, du sprichst gerade auch von der App, die der Paul Akers da ja rausgebracht hat, zumindest für iOS gibt es die. Wie nennt er es?

Alex Gärtner: Lean PD.

Götz Müller: Lean PD, genau.

Alex Gärtner: Genau.

Götz Müller: Wo man ja diese Checkliste für sich selber auch völlig frei definieren kann.

Alex Gärtner: Ja, also die nutze ich auch. Die ist aber für mich … hat sie fast die Funktion einer … also die mache ich nicht täglich, sondern auf wöchentlicher Basis, das ist für mich die Persönlichkeitsentwicklung, die da drin ist, also sprich, er hat ja auch Beispiele drin wie „der Mama anrufen“ oder „der Schwester anrufen“ oder „ein Buch lesen“ oder „einen Artikel lesen“, wie auch immer, also alle diese Felder der persönlichen Weiterentwicklung, die habe ich da drin, weil die ja auch gerne mal schnell untergehen, wenn man im täglichen Getriebe steckt und das sind eigentlich die Dinge, an denen man sich aufbauen kann und die einem helfen, auch klar zu sehen. Also gerade wenn ich Bücher wie Toyota Kata lese oder ähnliche, dann wird mein Geist freier, dann werde ich offener und klarer in meinem Beurteilungsvermögen. Das sind dann die Dinge, die ich mir da reinmache. Ich habe eine relativ kurze Checkliste mit Dingen, die ich wirklich jeden Tag machen muss, damit mir die Bälle nicht runterfallen, also da sind profane Dinge dabei wie die verschiedenen E-Mail-Konten durchchecken, ob da etwas Neues drin ist oder dieser KVP oder, was zum Beispiel Paul Akers in seinem Morning Meeting hat, ist die Frage „Wofür bin ich denn heute dankbar?“, ein bisschen esoterisch, aber das ist für mich wichtig, um Klarheit zu behalten „Was ist denn wirklich wichtig?“, generell.

Götz Müller: Ja. Absolut. Jetzt so mit entwickelten Umgebungen habe ich die Wahrnehmung, in der Produktion hat alles irgendwo angefangen und jetzt geht man halt auch mal raus. Was ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dass du jetzt nicht nur produktionslastig unterwegs bist, was ist deine Wahrnehmung was den Unterschied angeht zwischen Produktionsbereichen und dem Produktions-Lean und Dingen außerhalb?

Alex Gärtner: Ja. Also, ich sage mal, was bei … wenn ich es mal ganz plakativ mache … Produktion und Büro nenne ich es mal ganz pauschal … dann ist es so, dass man immer in der Produktion … oder ich sage es auch mal wieder auf Stammtischdeutsch, man hackt auf der Produktion herum, weil sie das Pech hat, dass man dort relativ gut erkennen kann, was Verschwendungselemente sind. Also die acht Verschwendungsarten, wenn man die intus hat, dann erkennt man relativ schnell, wo etwas schiefläuft. Das ist im Büro genau andersrum, da sind viele Prozesse versteckt, da muss man die erst herauskitzeln und da muss man diese Transparenz erst für sich schaffen, damit man erkennen kann, wo ist denn was Verschwendung und wo ist denn was notwendig oder sogar Wertschöpfung – relativ selten im Büro – aber … genau das ist der große Unterschied, der aber einen dann wiederum wieder leicht fällt, wenn man wirklich … also die acht Verschwendungsarten kann man ja eins zu eins auf die Prozesse im Büro anwenden und die sind, wenn man das lernt, wie man sie auch herauskitzelt, also wie kriege ich es denn hin, dass ich aus diesem schwarzen Kasten die Verschwendung erkenne, dann funktioniert es genauso gut wie in der Produktion. Es ist vielleicht noch ein Zwischenschritt drin, den man machen muss und der heißt eben, dass man Prozesse transparent macht mit einem Prozess-Chart oder einfach auf einfachste Art, man kann auch einen Wertstrom machen, einen Büro-Wertstrom, ähnliche Themen und erkennt dann relativ schnell „Okay, hier kann ich auch einfach den einen unnötigen Prozess rausstreichen und haben denselben Effekt wie in der Produktion.

Götz Müller: Jetzt möchte ich noch einen Schritt weitergehen, also über das Unternehmen oder sogar über die Branche hinaus, nämlich auf, ich nenne es mal, Nicht-Industrie-Unternehmen. Alles kommt ja eher aus dem Industrie-Umfeld, das heißt, zum Beispiel Handwerk, reine Dienstleistungsunternehmen, vielleicht auch sowas wie Gesundheitswesen. Wo würdest du sagen, wo sind da die größten Hebel, um es mal so auszudrücken?

Alex Gärtner: Also pauschal gesagt würde ich mich jetzt nicht festlegen auf einen großen Hebel, aber was sehr klar ist, wenn ich beispielsweise zum Bäcker gehe oder ich bin gelernter Schreiner, also auch in eine Schreinerei gehe, oder in irgendeinen Handwerksbetrieb, dann gilt da eigentlich das Gleiche wie in der Industrie, im Sinne, die acht Verschwendungsarten, wenn die in einem drinstecken, dann sieht man überall die Verschwendungselemente. Dann erkennt man beim Bäcker an der Theke, dass die Wege vielleicht so gestaltet sind, wenn mehr als zehn Leute dort in der Schlange stehen, dass es dann unweigerlich zum Chaos kommen muss, weil, keine Ahnung, die Kaffeemaschine steht am einen Ende und Brötchen sind am anderen und dann kreuzen sich die Damen, oder auch Herren, hinter der Theke und dann wird es einfach nichts vom Prozess her. Also diese Klarheit, Prozesse zu sehen und auch optimieren zu können durch die Eliminierung der acht Verschwendungsarten ist so einfach eigentlich, so simpel, wenn man es mal verstanden hat, wenn man sie mal intus hat, dass sie egal wo überall angewendet werden kann und eben, wie ich schon gesagt habe, im Regelfall sind sie im Handwerk, bei Firmen, die jetzt eben nicht Lean auf der obersten Agenda haben, noch relativ einfach umzusetzen oder zu sehen zumindest mal.

Götz Müller: Ja. Bei Buffets mache ich immer die Erfahrung, ich will nicht so weit gehen, dass es mir den Appetit verdirbt oder den Hunger austreibt, aber manchmal ist es schon kurz davor.

Alex Gärtner: Genau. Das kriegt man halt nicht mehr weg, wenn man es schon ein paar Jahre gemacht hat.

Götz Müller: Genau. Was würdest du sagen, wenn man jetzt … natürlich gibt es Unternehmen, auch heute noch, die ganz am Anfang stehen, vielleicht noch gar kein Bewusstsein haben oder jetzt mal irgendwo aufgeschnappt haben „Man könnte da irgendwo was tun“, mit deinen zwanzig Jahren Erfahrung, was man vermeiden sollte, um nicht vielleicht die gleichen Fehler zu machen, die man vor zwanzig Jahren schon gemacht hat.

Alex Gärtner: Ja. Das ist für mich ganz klar nach der Zeit und ist auch besonders schön beschrieben in dem Buch 2 Second Lean von Paul Akers, diese Grundlage, warum mache ich denn das, also sprich … Ich hatte vorher erwähnt, dass viele Firmen sehr technisch dieses Toyota-Produktionssystem umgesetzt haben und Schritt für Schritt einfach diese Elemente übernommen haben, den Mitarbeitern gesagt haben „Ja, ihr müsst jetzt euer Telefon umkreisen und das darf dann nur noch da stehen und ihr müsst Maschinen und womöglich noch Pfeiler, die fest im Raum stehen, umkreisen und sagen, dass die da nicht mehr wegdürfen.“. Jetzt übertreibe ich absichtlich ein bisschen, aber das sind genau diese Dinge, wo die Leute eher in die Ablehnung gegangen sind und nicht verstanden haben, warum soll ich denn dieses Ganze tun, was ist der Sinn dahinter. Und das ist mein großes Plädoyer und das wird eben sehr schön in dem Buch beschrieben, was ich gerade erwähnt habe. Sagt den Leuten das Warum und dann machen sie alles von selbst. Weil wenn ich erkläre, dass mein Stift einen Platz hat auf dem Tisch, weil alles andere Verschwendung ist, wenn ich den in der Schublade irgendwo suche oder meine Unterlagen irgendwo suche, das ist alles Verschwendung, die wir gar nicht wahrnehmen, im Büroumfeld. Gleiches gilt natürlich für die Produktion. Wenn ich meine Werkzeuge suche, vermindere ich natürlich die Effizienz, aber viel wichtiger und gravierender ist es, meine Ergonomie und meine Qualität gehen auch den Bach runter und ich beeinflusse alle meine Output-Faktoren negativ und das muss einem klarwerden. Ich will das tun, damit ich einen besseren Arbeitsplatz habe, damit es mir persönlich besser geht. Nicht dass der Chef sehen kann, der Stift liegt an seinem Platz, wo er hingehört. Das muss den Leuten klarwerden. Und das ist für mich ein ganz klares Plädoyer. Macht den Leuten klar, ihr wollt etwas verbessern. Ihr wollt nicht ihnen eine Form aufzwingen, die sie einhalten müssen, weil es eben irgendwo in einem Standard so steht.

Götz Müller: Ja. Da kann man im Grunde Simon Sinek zitieren „It starts with why.“, also dieses Warum ganz an den Anfang zu stellen. Und da, glaube ich auch, und du hast es ja angedeutet, das ist einer der Fehler, den man ganz am Anfang gemacht hat, vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren.

Alex Gärtner: Hundert Prozent, genau.

Götz Müller: Okay. Jetzt möchte ich … ich hatte schon mal jemanden, der auch schon lange im KVP-Bereich unterwegs war, so eine kleine Zeitreise machen und dann zum Schluss auch noch mal ein bisschen in die Zukunft gucken. Was ist deiner Ansicht nach, was sind so die großen Unterschiede zwischen dem Lean der 90er, der 2000er und der 2010er?

Alex Gärtner: Ja, also, ich würde sagen in den 90ern war Lean, und jetzt spreche ich immer primär, also nicht in Beispielen, sondern grundsätzlich gesehen, eher etwas, was primär noch in Japan stattgefunden hat und von Gelehrten oder von Wissenden, von Lean-Spezialisten in bestimmten Fachbereichen getrieben wurde und umgesetzt wurde. Also, industriell gesehen eher eine Randerscheinung, jetzt mal abgesehen von Japan. In den 2000ern war es dann so, da haben alle erkannt, okay, da steckt was dahinter. Toyota hat viel Geld übrig am Ende des Monats und am Ende des Jahres, da muss irgendetwas dahinterstecken, wir möchten das auch. Wir machen das auch. Da waren die ersten großen Unternehmen, die darauf gesprungen sind und zwar sehr strukturiert, mit sehr viel Kapazität und auch mit sehr hoher Management Attention, also Vorstandsebene, die dann gesagt hat „Ja, wir möchten das. Das ist absolut sinnvoll. Wir setzen das um.“ und dann wurde das Gesamtunternehmen eben darauf ausgerichtet. Das war in den 2000ern der Start für die großen Unternehmen. Und dann 2010 würde ich behaupten, haben dann alle erkannt „Okay, also egal wie man es umgesetzt hat, es bringt definitiv etwas und ich kann mich fast gar nicht mehr wehren, ich muss da jetzt etwas tun.“ Also, ich würde es überschreiben mit … alle müssen ab 2010. Die haben da so eine Art intrinsischen Druck gespürt, der dann da heißt „Okay, es kann ja nicht sein, dass wir das nicht machen, wenn die anderen es alle machen.“ Bei allem, was ich jetzt gesagt habe, ist die Motivation nicht unbedingt, dass das Warum klar ist, sondern es ist eher die Motivation, dass man nicht hinter den anderen anstehen möchte und das auch zumindest mal auf seiner Agenda haben muss heute fast schon, weil wenn jemand einen fragt „Macht ihr Lean im Unternehmen?“, dann muss die Antwort ja sein. Und das ist natürlich jetzt keine qualitative Aussage. Das kann auch nur, ich sage mal, lapidar oder Laissez-faire umgesetzt sein, aber es muss auf jeden Fall ein Element der heutigen Firmenkultur sein, das ist Usus sozusagen.

Götz Müller: Was aber, glaube ich, gleichzeitig die große Gefahr beinhaltet, die du nicht nur einmal erwähnt hast, nämlich dass man dieses Warum vergisst, sondern dass das Warum schon da ist, aber das Warum ist „weil es alle anderen machen“ und ich glaube, das kann es nicht sein.

Alex Gärtner: Genau. Das ist die falsche Motivation, wenn man das tut, damit man nicht hinten ansteht, aber was der Effekt ist und das merke ich jetzt bei den Firmen, die 2000 damit strukturiert angefangen haben, die haben natürlich in dieser Reise auch gemerkt, dass es wichtig ist, dieses Warum klar zu machen und es gibt da so vielseitige Bestrebungen, gerade diese Toyota Kata mitumzusetzen, also sprich diese unterliegende Kultur, das Atmen des Systems sozusagen mit einzubeziehen durch diverse Maßnahmen, sodass sie eben dann irgendwann auch gelernt haben „Okay, wir kommen in diese Coaching-Kultur. Wir kommen in diese Problemlösekultur, die Toyota schon seit vielen Jahrzehnten aufgebaut hat.“ und das ist praktisch dieser purpose dahinter und das fördern wir und fordern wir von allen ein. Das ist jetzt also sehr prominent, zumindest in der Firma, in der ich arbeite, aber auch aus Presseberichten und aus Berichten von Kollegen aus anderen Firmen, ähnliche Aktivitäten, also da merken alle, die Themen umsetzen, die technischen Elemente umsetzen, hat uns nicht immens weitergebracht. Das hat uns weitergebracht, aber nicht dahin, wo wir eigentlich hinwollen, zu dieser Kultur der Problemlöser, zu dem KVP als Gen, wenn ich es so ausdrücken darf.

Götz Müller: Jetzt eben … ich gucke mal so ein bisschen auf die Uhr, wir sind schon über die halbe Stunde weg, so zum Abschluss, was ist deine Prognose, wenn wir so in 10er-Schritten vorangehen, was werden die 20er bringen und ich glaube, man kommt nicht darum herum, das Stichwort Digitalisierung ist in aller Munde irgendwo, was ist dein Eindruck, welchen Einfluss wird Digitalisierung auf Lean und Co haben?

Alex Gärtner: Ja. Also, klar. Zum einen bietet die Digitalisierung die Möglichkeit, Prozesse schneller und einfacher zu analysieren und vielleicht sogar automatisch zu analysieren. Das machen wir schon vielfach, dass Dinge, wo man früher noch einen Wertstrom aufgezeichnet hat, schon von vorne herein sehr transparent sind, weil man das so transparent machen kann, die Maschinen können das, die Technik kann das. Was aber, glaube ich, eher noch unterliegend anders werden wird, ist auf jeden Fall, dass die Produktion zwar immer noch im Fokus bleibt, weil dort die Wertschöpfung passiert, aber auch die administrativen Prozesse viel mehr in den Fokus geraten und da eben das Thema Lean auch noch viel mehr gefördert und gefordert wird. Das merke ich jetzt eben auch in meinem Umfeld, dass es mehr und mehr kommt, dass man da nicht mehr, sage ich mal, akzeptiert, wenn etwas fett, ich nenne jetzt einen Prozess fett, wenn er nicht so rund läuft, wie er sollte, das wird nicht mehr akzeptiert. Das heißt also, das wird in der Zukunft immer mehr werden und das wird parallel mit der Digitalisierung immer wieder die, ja, der Fokus sein in der Zukunft. Und interessanterweise vielleicht auch, in der Produktion merken wir auch, groteskerweise eigentlich, hin zu weniger Technik teilweise, damit man flexibler wird, also sprich das Stichwort low cost automation, in der nicht mehr die Roboter da sind, sondern in der vielleicht wieder kleine Handhabungsgeräte oder Ähnliches die Flexibilität gewährleisten und auch Stabilität gewährleisten. Also so ein bisschen eine Mischung aus einerseits digitaler werden, andererseits aber auch wieder technisch einfacher werden, um diese Vielfalt heutiger Kundenwünsche flexibel abdecken zu können.

Götz Müller: Ja. Also, ich nehme für mich auf jeden Fall mit, es wird, wenn ich jetzt mal unter uns rede, es wird uns, so im Beratungsumfeld, mit Sicherheit nicht langweilig werden.

Alex Gärtner: Nein. Mit Sicherheit nicht. Genau.

Götz Müller: Gut. Alex, ich danke dir für deine Zeit, da waren spannende Themen dabei, eben auch mal aus einer ganz anderen Blickrichtung.

Alex Gärtner: Ich danke dir auch. Vielen Dank, hat Spaß gemacht. Super Fragen, genau die richtigen Fragen. Danke.

Götz Müller: Prima.

Das war die heutige Episode im Gespräch mit Alex Gärtner zum Thema Lean in einer fortgeschrittenen Umgebung. Notizen und Links zur Episode finden Sie auf meiner Website unter dem Stichwort 137.

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Ich bin Götz Müller und das war Kaizen to go. Vielen Dank fürs Zuhören und Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten Episode. Und denken Sie immer daran, bei allem was Sie tun oder zu lassen, das Leben ist viel zu kurz, um es mit Verschwendung zu verbringen.

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