Kaizen 2 go 321 : Lean als Brücke zwischen IT und Produktion


 

Inhalt der Episode:

  • An welcher Stelle gibt es Gräben zwischen der IT und der Produktion?
  • Was sind die Folgen dieser Gräben?
  • Warum jetzt gerade Lean diese Brücke schlagen, wenn es doch aus der Produktion kommt?
  • Was ist eigentlich ITIL und warum kann es hilfreich sein, da mal reinzuschauen?
  • Warum hat es so lange gedauert, bis Lean & Co. in der IT angekommen sind?
  • Was steckt hinter dem Wandel von IT Service Management (ITSM) zu Enterprise Service Management (ESM)?
  • Was steckt jetzt also konkret in der „neuen“ IT (ITIL 4)?
  • Was können die verschiedenen Stakeholder im Unternehmen tun, um den Brückenschlag zu unterstützen?

Notizen zur Episode:


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(Teil)automatisiertes Transkript

Episode 321 : Lean als Brücke zw. IT und Produktion

Herzlich willkommen zu dem Podcast für Lean Interessierte, die in ihren Organisationen die kontinuierliche Verbesserung der Geschäftsprozesse und Abläufe anstreben, um Nutzen zu steigern, Ressourcen-Verbrauch zu reduzieren und damit Freiräume für echte Wertschöpfung zu schaffen. Für mehr Erfolg durch Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, höhere Produktivität durch mehr Effektivität und Effizienz. An den Maschinen, im Außendienst, in den Büros bis zur Chefetage.

Götz Müller: Heute habe ich Thorsten Speil bei mir im Podcast-Gespräch. Er ist Trainer bei der Maxpert und beschäftigt sich mit IT-Management-Training und Beratung. Hallo Thorsten.

Thorsten Speil: Ja, Hallo Götz! Ich grüße dich. Schön hier zu sein bei dir.

Götz Müller: Ja, schön, dass du dabei bist. Ich habe schon ein kurzes Stichwort gesagt zu dir, aber stell dich gerne noch mal in ein paar Sätzen den Zuhörern vor.

Thorsten Speil: Ja, gerne, mache ich. Wir kennen uns ja auch noch nicht so ewig lange, über die LeanBase eigentlich, wo ich auf deinen LeanBookClub als erstes aufmerksam geworden bin und darüber sind wir so ins Gespräch gekommen und deine Idee war dann ja, dass wir auch eine Podcast-Folge miteinander machen könnten, weil du mitbekommen hattest, dass ich neulich ein Webinar zu Lean für Management und IT gemacht habe. Vielen Dank für die Einladung und dass das heute dann funktioniert. Du hast es ja schon gesagt, ich arbeite als Trainer bei Maxpert. Ich bin von Haus aus Ingenieur und Businessmaster, habe in der Windkraft angefangen, dann habe ich viel in der Energiewirtschaft und im Finanzbereich gearbeitet, als Führungskraft, Berater, Projektmanager, Trainer, in der Regel von der fachlichen Seite aus, mit den IT-Bereichen zusammen. So viel zu mir erstmal.

Götz Müller: Jetzt haben wir ja heute als Titel für die Episode „Lean als Brücke zwischen IT und Produktion“. So, jetzt müssten wir ja keine Brücken bauen, wenn es da schon Autobahnen und Straßen gäbe, das heißt, metaphorisch betrachtet muss es irgendwie eine Art von Graben geben, sonst bräuchte man ja die Brücke nicht. Und was ist dein Blick darauf als jemand, der, so würde ich es ausdrücken, ein sehr starkes IT-Standbein hat? Wo siehst du die Gräben, wo begegnen sie dir?

Thorsten Speil: Ja, die begegnen mir ganz oft. Also wenn ich als Trainer arbeite oder auch früher, da hatte ich oft mit Unternehmen zu tun, die agiler arbeiten wollen oder ihre Projekte besser steuern oder Menschen in meinen Trainings, die die IT besser verstehen wollen. Und da höre ich oft „Die IT und die Fachbereiche Produktion oder das Management, die verstehen sich nicht, die sprechen eine unterschiedliche Sprache.“ Na ja, und so eine gemeinsame Sprache brauchen wir doch. Und das ist Lean, denke ich.

Götz Müller: Das kann eine gemeinsame Sprache sein, genau. Und es wird ja auch heute das Thema unserer Episode sein. Aber vielleicht, um noch einmal auf diese Gräben zurückzukommen. Du erzählst, es berichten dir Menschen, sie verstehen die IT nicht oder die IT versteht die anderen nicht. Dann sagen sie das …, wenn das jetzt nicht schlimm wäre, würden sie nicht darüber reden. Also sprich, was sind die Folgen dieser Gräben?

Thorsten Speil: Ja, genau. Also, ich nehme an, viele von den Hörern jetzt, die regelmäßig deinen Podcast hören, die sind entweder selbst aus der Produktion, kennen Lean ziemlich gut oder haben ein Interesse an Lean. Und die wissen ja aber auch, wenn ich 100 Unternehmen frage, dann sagen nicht gerade 90: „Na klar, Lean machen wir rauf und runter, das ist hier quasi Muttermilch.“ Und so ist das in der IT auch, egal welche guten Ansätze und Methoden es gibt, die konsequente Anwendung ist doch eher selten. Das merkt man dann auch an den Ergebnissen und so haben sehr, sehr viele ITler wirklich wenig Ahnung von Methoden, weil sie vor allem operativ und in ihren Projekten arbeiten. Das geht dann wieder der Produktion und den anderen Bereichen ebenso. Alle sind entweder schon so voll mit ihrer Kernarbeit oder es läuft halt auch so, das Wasser steht nicht bis zum Hals, dann muss ich mich auch nicht mit Methoden großartig beschäftigen. Und jeder hat so seine Lieblingsmethoden. Also gerade, ich hatte Agilität schon erwähnt, Agilität wird sowohl in der IT als auch im restlichen Unternehmen oft als so ein IT-Ding betrachtet. „Das sollen die mal für sich machen, das hat mit uns nichts zu tun.“ Und schon habe ich so einen Graben, so ein Silo. Es gibt da etwas, eine Art zu arbeiten, die der eine Unternehmensbereich macht, mehr oder weniger und die anderen glauben, das hat mit ihnen nix zu tun. Und das würde ich aber bei IT zum Beispiel sehr stark bestreiten, weil es ja kein Unternehmen heute eigentlich mehr gibt, was auch nur ein Stündchen produktiv arbeiten könnte, wenn die IT nicht die Dienstleistungen bereitstellen kann und aufrechterhält, oder?

Götz Müller: Ja, ja, das kann ich nur unterstreichen. Andererseits, bei deiner Erzählung jetzt kam mir dann der Gedanke, dass es mir ganz oft dann auch begegnet, wenn es solche Gräben gibt, und es gibt natürlich noch viele andere Gräben, da könnte man noch zig Episoden wahrscheinlich dazu machen, dass wenn dann eine Seite und da glaube ich, kann man das Thema Lean natürlich schon primär der Produktion zuordnen, wenn die dann etwas vorschlägt, dann kommt ganz gern von der anderen Seite des Grabens die Aussage: „Nee, das ist ja etwas für euch. Damit fangen wir dann wieder nichts an.“ Und dann hilft das ja im Grunde auch wieder nicht und trotzdem hast du den Gedanken, und deshalb unterhalten wir uns ja jetzt auch, dass Lean trotzdem diese Brücke schlagen kann.

Thorsten Speil: Ja, absolut. Weil Lean ja auch schlicht und einfach vorher da war und die Ausgangsbasis zum Beispiel für die heutigen Ansätze in der IT ist. Also du hattest so ein bisschen gesagt, na ja, oder es war vielleicht provokativ, „Lean, das ist ja mehr so etwas für die Produktion“ und das würde ich nicht so unterschreiben. Also für die Praktiker, die Lean-Praktiker wissen ja alle, die Ursprünge hat das, was heute Lean heißt, bei Toyota und das ist natürlich Manufacturing, Produktion, Automobilindustrie, aber die haben das ja auch von Anfang an auf alle Unternehmensbereich angewendet, also auch auf die administrativen Bereiche, wobei die natürlich auch sowohl an der Wertschöpfung beteiligt sind, als auch an den Kosten, an der Leistungsfähigkeit, an dem, wie man mit Kunden umgeht und ob die zufrieden sind oder nicht und wiederkommen. So, und dafür sind ja alle Unternehmensbereiche wichtig, nicht nur, ob meine Produktion vernünftig läuft. Was hilft mir eine schlanke Produktion, wenn meine Administration oder Logistik oder Sales mir das zunichtemachen oder auffressen? Das ist ja das Problem mit Silodenken oder mit den real existierenden Steuerungsbrüchen zwischen Zwischenbereichen.

Götz Müller: Ja, da bin ich voll bei dir. Und natürlich gibt es so Elemente, mittlerweile als Begriff, Lean Administration, Lean Service und trotzdem nehme ich halt immer wieder wahr, dass Menschen die Wahrnehmung haben, und ganz oft kann das eben, du hast Automobilindustrie genannt, an diesem sehr vereinfachten Satz festmachen, der mir ganz oft begegnet, der aber natürlich umgekehrt genauso verkehrt ist: „Wir bauen ja keine Autos.“ Und jetzt, egal, ob ich jetzt eine Nicht-Automotive-Branche nehme oder halt in einen Bereich reingehe, wo halt nichts produziert, also und dann schon gar keine Autos gebaut werden können, trotzdem kommt da eben dieser Satz und ich denke, und ich hoffe, dass unsere Episode jetzt auch mit diesem, ja, ich bin mal so frech und nenne das Irrtum, mit diesem Irrtum auch aufräumt. Und dann auch so Elemente wie „not invented here“ auf Neudeutsch und so nehme ich das halt, auch wenn es verkehrt ist, so nehme ich das halt immer wieder als Hürde wahr, weil es halt irgendwie sich in den Köpfen festgesetzt hat: „Ja, Lean ist etwas für die Produktion.“

Thorsten Speil: Das könnte ja dann eben aus den anderen Bereichen kommen diese Denke: „Das ist ja etwas für die Produktion und wenn ich nicht in der Produktion bin, dann ist es auch nichts für mich.“ Dann würde ich zum Beispiel fragen: „Na ja, was findet ihr denn so attraktiv, interessant, mit was für Ansätzen beschäftigt ihr euch denn, wenn ihr zum Beispiel in der IT, im Technikbereich arbeitet?“ Und dann kommt zum Beispiel so etwas wie „Na ja, also wir arbeiten hier zum Beispiel mit Scrum.“ als bekannteste agile Methode und dann sage ich: „Na gut, und Scrum, wenn man einfach nur den Scrum Guide durchliest, was steht denn da auf Seite 3? Da steht, okay Scrum basiert auf Lean-Denken und Empirismus.“ Was heißt denn das eigentlich? Das wird da nicht weiter erklärt, weil der ist ja nur 14 Seiten lang, der Scrum Guide, das steht da nicht, aber da steht, das ist unsere Basis Lean-Denken und Lean-Prinzipien und Empirie, also Messen, Nachweise führen usw., was auch sehr gut zu Lean-Ansätzen passt, nicht einfach auf Vermutungen aufzubauen oder auf einmalige Pläne, sondern wirklich zu gucken, wo wir stehen und dann kommt da vielleicht schon mal ein „Hm, aha, okay“, da taucht dieses Lehnwort auf und im Scrum Guide, also was der Sutherland und Schwaber sich da irgendwo Anfang der 90er dann mal das erste Mal zusammengetragen haben, das war ja für Softwareentwicklung, allerdings auch für Hardwareentwicklung. Das wissen wiederum auch viele nicht, dass Scrum eigentlich den Ursprung in der Hardwareentwicklung hat, in der Technik, also in der Produktentwicklung. So, oder sie sagen halten ein anderes Framework und dann kann ich immer eigentlich auch wieder sagen, ja, okay, lass uns mal reinschauen, da taucht doch überall dieser Begriff Lean auf und Lean-Prinzipien und Lean-Denken und so, offensichtlich waren die, die hinter diesen Methoden stecken, die haben sich offensichtlich sehr intensiv mit Lean beschäftigt und fanden, dass es eine gute Grundlage ist auch für die Arbeit in, zum Beispiel, der Softwareentwicklung oder dem Betrieb von IT-Netzwerken.

Götz Müller: Ja, das war jetzt ein gutes Stichwort und das habe ich ja von dir im Grunde zur Einleitung unserer Episode heute gelernt, dass in so etwas, ja, sehr verbreiteten, für mich als IT-Laie, ITIL, dass da eben ganz, ganz tief das Thema Lean auch drinsteckt und da bin ich dann auch immer wieder überrascht, so möchte ich es ausdrücken, dass das den Menschen, die ITIL machen, in Anführungszeichen, jeden Tag, dass denen das aber trotzdem nicht bewusst ist.

Thorsten Speil: Manchmal nicht, genau. Und da geht es vielen wie dir. Vielleicht habe ich da auch einen gewissen Vorteil in dem Aspekt, weil ich eben auch aus dem IT-Service-Management komme, und da Erfahrungen gesammelt habe, und da ja auch als Trainer unterwegs bin. Also woher kann das kommen? Entweder, wenn ich nicht in der IT arbeite, dann habe ich mich damit vielleicht noch gar nicht beschäftigt, dass es ITIL, also das IT-Service-Management gibt, oder ich bin halt in der Entwicklung und dann ist mir der Betrieb auch vielleicht nicht so wichtig. Und wenn ich aber eben im IT-Betrieb bin, und diese regelmäßigen Grundprozesse und Dienstleistungen bereitstelle, dann machen wir das vielleicht auch schon eine Weile und ich kenne vielleicht noch die ITIL-Version 3, die ist so 2011 auf den Markt gekommen, und die war extrem IT-prozessorientiert. Das war ganz klar noch ein IT-Service-Management-Framework und da waren die halt der Platzhirsch und in der Denke sind auch viele ITler durchaus noch drin und deshalb fand ich das sehr gut, was viele nicht so auf dem Schirm haben, dass in der ITIL-Version 4, die 2019 auf den Markt kam, ITIL vom IT-Service-Management-System komplett umgestellt wurde auf ein Enterprise-Service-Management-System, also nicht mehr nur für die IT, weil die gesagt haben, es gibt die IT eigentlich gar nicht mehr so als reinen Dienstleister, als Cost Center oder so wegen dieser engen Verwebung in die Geschäftsfähigkeit des gesamten Unternehmens. Und da haben sich auch die Leute hinter ITIL dann voll auf eine Lean-Grundlage gestellt, mit ihrem Wertstromsystem und mit der Wertschöpfungskette und so weiter. Da würden unsere Lean-Praktiker jetzt aus der Produktion ganz viel wiedererkennen und darauf wird dann auch bei ITIL sehr stark eingegangen.

Götz Müller: Ja, vielleicht sollten wir jetzt fast einen Schritt noch mal kurz zurückgehen, wir verwenden jetzt immer wieder den Begriff ITIL, und ich könnte mir vorstellen, alle die, die jetzt halt eher aus dem Produktionskontext kommen, haben vielleicht den Begriff noch nie gehört. Und vielleicht sagst du als, glaube ich, berufener Mensch ein paar Sätze dazu, was denn da dahintersteckt.

Thorsten Speil: Ja, natürlich, klar. Also, jeder im Unternehmen möchte gerne eine vernünftige IT haben, die die Produktionsmaschinen und die entsprechenden Kennzahlen et cetera vernünftig verwaltet, die nicht ausfällt, die schnell genug funktioniert, die nicht zu viel kostet, natürlich auch und so weiter. Das sind ja regelmäßige Prozesse so wie auch meine Produktion in der Regel, je nachdem, was ich da produziere, Dinge hat, die einfach meine Standardprodukte sind, die ich in großer Stückzahl möglichst effizient versuche bereitzustellen. Und da hilft mir ja Lean auch sehr stark, damit das schnell geht, ich keine Wartezeiten habe, ich keine Bestandteile in meinem Wertstrom überlaste et cetera und so funktioniert das mit den Softwareprozessen oder den IT-Prozessen letztlich genauso, also es geht um die Bereitstellung von diesen Grundfunktionalitäten. Und auch wenn es mal nicht so funktioniert wie es sollte, wie kriegen wir das möglichst schnell wieder hergestellt, Störungsbelebung, wie gehen wir Problemen auf den Grund, Problemlösung. Auch das kommt uns ja aus Lean als sehr wichtiges Element bekannt vor. Das sind so einige der Grundelemente von IT-Service-Management. Und sehr spannend ist dann für viele Unternehmen sicherlich auch, dass es inzwischen eigene Module bei ITIL gibt, in dieser Standardsfamilie, wie zum Beispiel High Velocity IT, das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen komisch an, aber wie bringe ich die IT dazu, schneller veränderte Anforderungen umsetzen, liefern zu können und obwohl wir schneller werden, wie bleibt das System trotzdem stabil gegenüber Angriffen, gegenüber Ausfällen und Störungen et cetera? Also dieser Spagat zwischen Geschwindigkeit einerseits und trotzdem einem stabilen, sicheren Betrieb, das wäre ein Modul, jetzt bei ITIL, viele machen da mal so eine Grundlagenschulung, so eine Foundation-Schulung zwei Tage. Na ja, okay, das ist dann so ähnlich wie, ich bin in die erste Klasse gegangen oder so etwas, da ist also noch viel mehr an Konzepten dahinter oder auch ITIL für Cloud-Anwendungen.

Götz Müller: Ja, jetzt hast du ja vorhin eine Jahreszahl genannt, 2019 für ITIL 4, also die Version 4 und die Vorversion, acht Jahre vorher, 2011. Wenn man sich jetzt so den Zeitstrahl der Lean-Welt anguckt, ist der Begriff ja in den Achtzigern das erste Mal aufgetreten und wenn ich rüber in den Scrum Guide gucke, ist natürlich auch der Begriff an sich erst relativ spät, aber im Grunde haben sie damit so ein bisschen ihre Gedankenwelt offengelegt und gesagt, nee, schon im ersten, also zumindest ist das meine Interpretation, schon im ersten Scrum Guide hatten wir das im Hinterkopf, wir haben es nur noch nicht so gesagt. Und jetzt die Frage hinter der hinter dieser etwas längeren Einleitung an dich, für jemanden, der eben so tief drinsteckt, warum hat es so lange gedauert, bis Lean und Co in der IT angekommen sind?

Thorsten Speil: Das ist eine gute Frage. Mir kommt als erstes in den Sinn, dass ich vermute, dass auch die, viele ITler sich lange Zeit erst mal als Techniker gesehen haben und als Entwickler und so weiter und von daher nur relativ wenige überhaupt auch sich Gedanken gemacht haben darüber, neue Methoden und Ansätze zu entwickeln und auf welchen man die dann basieren könnte. Ich weiß aber, dass zum Beispiel der Sutherland und der Schwaber, die kannten sich ziemlich gut und die hatten sich schon jahrelang Gedanken darüber gemacht, wie man Softwareentwicklung zum Beispiel verbessern und produktiver machen könnte, schon seit den Achtzigern. Und der Sutherland ist dann halt irgendwo bei einer seiner Recherchen auch auf den Artikel aus dem Harvard Business Review von ’86 gestoßen, den Nonaka und Takeuchi geschrieben haben „The New New Product Development Game“, wo diese beiden japanischen Professoren, die sehr nahe an der Lean-Bewegung und an dem Thema Knowledge Creating Company dran waren und da auch das Buch veröffentlicht haben „The Knowledge Creating Company“, die haben untersucht, wie Unternehmen wie Canon, HP, Honda und mehrere andere amerikanische und japanische Firmen, wie die es geschafft haben, besonders innovative Produkte in besonders kurzer Zeit zu produzieren und in diesem Artikel von den beiden Japanern tauchten das erste Mal, tauchte der Vergleich mit so einem Mannschaftssport, mit so einem Teamsport, Rugby, auf und der Begriff Scrum, also da kommt das ursprünglich eigentlich her. Man kann also sagen, es ist schon so ’86, und das ist ja wirklich ziemlich früh, gibt es eine Verbindung zwischen der Gedankenwelt der Produktentwicklung und den Lean-Management-Grundlagen einer kontinuierlichen … ich will selber gar nicht kontinuierliche Verbesserung sagen, aber eines kontinuierlichen Hinterfragens und Veränderns, Verbessern von Vorgehensweisen und dem Thema Produkt- und Softwareentwicklung, das haben die sich also relativ schnell schon geschnappt.

Götz Müller: Ja, und ich finde es insofern eben spannend. Ich beschäftige mich auch gerade mit dem Thema Lean Product Development sehr intensiv. Meine ersten Berührungspunkte mit Lean und Co, ich sage immer so ein bisschen flapsig, waren im letzten Jahrtausend, vor 25 Jahren. Und was ich halt spannend finde, wenn man sich mit dem Thema Produktentwicklung und dem Lean-Einfluss beschäftigt, dann tauchen da ganz oft eben Dinge auf, die bei Toyota gelaufen sind, immer noch laufen und die, glaube ich, sogar viel zu sehr unterschätzt werden in dem Gesamtkomplex, von der Bedeutung her, weil das, was ich in Produktion reißen kann, wenn ich vorher irgendwas in der Produktentwicklung, in Anführungszeichen, nicht so toll, was auch immer nicht so toll bedeutet, vergeigt habe. Das rette ich ja in der Produktion nicht mehr, weil viele der Produktkosten entstehen ja eben in der Entwicklungsphase, und zwar jetzt nicht die Entwicklungskosten, sondern sie werden bestimmt in der Entwicklungsphase. Und ich kann dann hinterher natürlich noch ein bisschen was optimieren, aber das geht dann fast schon in die Richtung auch, ich optimiere Wertschöpfung, wäre aber viel effizienter, viel effektiver, wenn ich die Dinge, die gar nicht wertschöpfend sind, von vornherein weglasse. Und da wiederum eben der ganz große Hebel viel früher liegt. Und das, glaube ich, in meiner Wahrnehmung und allein, wenn man sich anschaut, wie viel Literatur oder wie wenig Literatur es über das Thema Lean Product Development gibt, im Vergleich zu Lean Production, ja, da liegen Faktoren, vielleicht sogar im zweistelligen Bereich dazwischen. Allein wenn man sich die Literatur dazu anguckt. Deshalb so ein bisschen fast, wie soll man das ausdrücken, ein bisschen fast entschuldigend, möchte ich es nennen, für die IT im Sinne von: Nee, ihr seid gar nicht spät dran, die anderen sind genauso langsam gewesen. Also die klassische Produktion, dieses Bewusstsein, auch mal auf die Entwicklung zu gehen und zu sagen: „Hey, was entwickelt ihr da eigentlich?“ Im Sinne von, das können wir jetzt in der Produktion mit supertoller Lean Production auch nicht mehr retten.

Thorsten Speil: Ja, genau. Aber du weißt ja auch, also gute Ansätze, wirklich objektiv gute Ansätze, nur weil etwas gut ist, garantiert es noch lange nicht, dass es irgendwann mal mehrheitsfähig wird, und selbst wenn es das tut, kann es teilweise Jahrzehnte dauern. Also nehmen wir mal Deming, der wichtige Grundzüge für Elemente, die ich auch bei Lean finde und im Toyota Production System schon in den 30er-, 40er-Jahren entwickelt hat, der ist hübsch ignoriert worden in den USA. Den hatte keiner auf dem Schirm bis in die 80er. Also von daher, da gab es weite Bereiche der Wirtschaft und der Welt, die das völlig ignoriert haben, auch wenn es da war. Dasselbe gilt vielleicht so für die Theory of Constraints von Goldratt, die auch definitiv nicht Mainstream ist, obwohl sie unglaublich nützliche Ansätze enthält. Und dasselbe, denke ich, gilt auch für die Übertragung von Lean-Ansätzen ins Thema Softwareentwicklung und -betrieb.

Götz Müller: Und ein anderes altes Thema, Training Within Industry, das finde ich ja noch krasser. Das ist ja in den USA entstanden, in den frühen Vierzigern und dann ist halt ’45 gewesen und dann war es in Anführungszeichen vorbei. Man hat den Schmerz nicht mehr gehabt und dann ist es so was von schnell, ja, sprichwörtlich wirklich in die Tonne getreten worden. Und dann hat es Jahrzehnte gedauert, bis man es, in Anführungszeichen, unter einem anderen Überbegriff wiederentdeckt hat.

Thorsten Speil: Ja. Und das kannst du ja super übertragen auch auf viele Situationen in vielen Unternehmen. Wenn dem Unternehmen nicht das Wasser bis zum Hals steht, ist es schwieriger, genug Energie aufzubringen für eine wirkliche, grundlegende und nachhaltige Veränderung. Und es war bei den Amerikanern 1945 auch so. „Hurra! Nachkriegszeit! Alles wächst. Wir können produzieren, was wir wollen, wir haben Abnehmer.“ Also in so rosigen Zeiten leben die meisten Unternehmen heute nicht, aber in dem Fall war es wirklich eine Zeit des Konsums und von daher, da brauchte man, auch in den USA, nicht so darauf zu achten und hatten große, große Mengen und so weiter, konnten da mit den Skaleneffekten arbeiten. Und bei den Japanern war es halt genau anders. Die hatten wenig Ressourcen, schlechte Qualität, kaum Chancen, eine miserable Binnennachfrage und so und die hatten den Schmerz und deshalb haben sie etwas daraus gemacht.

Götz Müller: Gut. Jetzt so ein bisschen der Gedanke, einerseits oder die, nennen wir es mal die Aufforderung, an die Produktionsleute „Hey, schaut euch mal an, was da in ITIL 4 ihr drinsteht und zeigt’s vielleicht mal euren ITlern“, so im Sinne von „Hey, da steht auch Lean drin, probiert es doch mal aus.“.

Thorsten Speil: Ja, das denke ich wäre eine gute Idee. Also wenn die Produktionsleute jetzt gehört haben, auch okay, ITIL-Version 4, da sind zum Beispiel Wertströme drin und das hat eine Lean-Basis, dann gibt uns das ja eine viel bessere Möglichkeit, auch mit der IT eine gemeinsame Basis zu schaffen. Wir haben jetzt also quasi eine gemeinsame Sprache, dann könnten wir mit denen ja jetzt mal in den Austausch gehen. Silos sind ja sowieso nicht gut. Also Management, Produktion, wie auch immer, können das nutzen, um zu sagen: Hervorragend, jetzt können wir die Wertschöpfung und die Wertströme einheitlich durchdenken und umsetzen. Und das passt dann sowohl auch für die Entwicklung, die wir von der IT brauchen, für unsere Produktion und den Rest des Unternehmens als auch für den Betrieb. Und es passt hervorragend dann zum Beispiel auch zu agilen Ansätzen wie DevOps. Das wird also jetzt vielleicht auch den Produktionsleuten nicht so viel sagen, den ITlern sollte das definitiv was sagen. Also Dev ist der Development-Teil, die Entwicklung und Ops ist die Operations, also der Betriebsteil. Da hat sich in den letzten 20 Jahren ein hervorragender Werkzeugkoffer aufgebaut, wie diese Entwicklung und Betrieb und deren Verzahnung super funktionieren kann. Das ist auch komplett auf Lean aufgebaut und auf Engpass-Theorie. Ein ganz spannendes Buch dazu, wer Lust hat, finde ich „Das Phoenixprojekt“ von Jin Kim und da gibt es auch zwei Folgebände. Ich habe zum Beispiel „Beyond the Phoenix Project“ neulich gehört, das ist von 2019, da wurden diese Wurzeln, wie ist es, was steckt hinter DevOps, wurden extrem gut beleuchtet und da war sehr, sehr viel von Lean die Rede, von Deming und Goldratt. Das fand ich ganz spannend. Ich bin nur nicht sicher, ob es das Buch auch inzwischen schon auf Deutsch gibt. Das Phoenixprojekt gibt es auf jeden Fall auch auf Deutsch. Das heißt, ich kann da wirklich so eine integrierte Landschaft machen mit einer einheitlichen Basis. Das kann meiner Wertschöpfung nur guttun.

Götz Müller: Ja, und mir kommt jetzt gerade der Gedanke bzw. die Kombination mit dem, was ich vorhin gesagt habe. Das könnte auch ein Modell sein für die Produktion, auf ihre eigene Entwicklung, Produktentwicklung zuzugehen und zu sagen, und die vielleicht sogar ein bisschen herauszufordern und zu sagen: Hey, guck mal, die ITler haben das zusammengeführt, DevOps, und Entwicklung und Betrieb, Produktion, da schaut doch mal nach, ob ihr nicht eure eigene Produktentwicklung mal am Haken nehmen könnt und da diese Durchgängigkeit erreichen könnt und da noch einen Schritt, einen deutlichen Schritt weiterkommt.

Thorsten Speil: Das gefällt mir. Da würde ich mich gerne mit dir näher darüber unterhalten demnächst mal, Götz. Das gefällt mir. Ja, den Gedanken finde ich gut.

Götz Müller: Prima. Ja, ich glaube, das werden wir weiterführen, die Unterhaltung. Schon im Vorfeld haben wir ja beide einige Gedanken entwickelt, Gedanken ausgetauscht. Deshalb an der Stelle erst einmal vielen Dank, Thorsten, für deine Zeit und ich bin mir ganz sicher, dass wir das Thema noch weiterführen.

Thorsten Speil: Sehr gerne. Hat mir auch Spaß gemacht und das machen wir, Götz, ich wünsche dir einen schönen restlichen Tag und bis bald, zum Beispiel bei deinem LeanBookClub.

Götz Müller: Das war die heutige Episode im Gespräch mit Thorsten Speil zum Thema Lean als Brücke zw. IT und Produktion. Notizen und Links zur Episode finden Sie auf meiner Website unter dem Stichwort 321.

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Ich bin Götz Müller und das war Kaizen to go. Vielen Dank fürs Zuhören und Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten Episode. Und denken Sie immer daran, bei allem was Sie tun oder lassen, das Leben ist viel zu kurz, um es mit Verschwendung zu verbringen.

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