Wie man Wissen verschwendet

Deponie

Bevor man diese Fragestellung diskutiert, sollte erstmal klar sein, was Wissen eigentlich ist. Auf einer etwas diffusen Ebene weiß man das natürlich. Wenn man es genau wissen wollte, hat man früher den Brockhaus rausgeholt, später kam Wikipedia (was einen aber erstmal erschlägt [1]). Heutzutage befragt man wahrscheinlich erstmal ChatGPT (mit aller gebotenen Vorsicht bzgl. der Resultate):

Wissen bezieht sich auf das Verständnis, die Informationen, Fakten, Konzepte und Fähigkeiten, die eine Person durch Lernen, Erfahrung und Studium erworben hat. Es umfasst sowohl theoretisches Wissen als auch praktische Kenntnisse über verschiedene Bereiche wie Wissenschaft, Geschichte, Mathematik, Kultur, Sprachen und mehr. Wissen ermöglicht es einer Person, Probleme zu verstehen, Lösungen zu finden, Entscheidungen zu treffen und auf verschiedene Situationen angemessen zu reagieren. Es kann durch formelle Bildung, informelles Lernen, persönliche Erfahrungen und den Austausch von Informationen erworben und erweitert werden. Wissen ist eine wertvolle Ressource, die es Menschen ermöglicht, ihr Potenzial zu entfalten, sich weiterzuentwickeln und zum Fortschritt der Gesellschaft beizutragen.

Der in meinen Augen wichtigste Aspekt kommt da schon mal zum Ausdruck. Wissen hat immer einen Bezug zu Menschen und wie sie damit umgehen. Das war auch der Auslöser für diesen Artikel.

Wenn dann das Stichwort Verschwendung fällt, liegt der Bezug zu den sogenannten Verschwendungsarten nicht fern.

Wahrscheinlich könnte man für jede Verschwendungsart bzgl. Wissen einen eigenen Artikel schreiben. Ich will mich mal auf den Aspekt Umgang mit Wissen konzentrieren. Den klassischen Begriff des Over-Processing hab' ich jetzt bewusst vermieden, weil ich schon wieder einschränkend betrachte.

Der Punkt, auf den ich raus will, dreht sich im Grund um den Transfer des Wissens einer Person zu einer oder mehreren anderen Personen. Die Verschwendung in diesem Kontext ist aber vielschichtiger, weshalb ich es auch nicht bloß der Verschwendungsart des Transports zugeordnet habe.

Konkret geht es mir um das Wissen, das im Rahmen von Produktentwicklungsprojekten und den zugrundeliegenden Prozessen entsteht.

Eine der großen Herausforderungen in diesem Kontext ist der schon angedeutete Transfer des Wissens, das bei den beteiligten Personen im Rahmen des Projektes entstanden ist. Dabei geht es einerseits um den schon erwähnten Transfer zwischen den Personen und andererseits auch um den Transfer von einem abgeschlossenen Projekt in ein zukünftiges. Selbst wenn der Transfer zwischen den beteiligten Personen des abgeschlossenen Projekt optimal funktioniert, kann man aber nicht voraussetzen, dass genau diese Personen dann auch in einem zukünftigen Projekt zusammenarbeiten.

Da sich typische Produktentwicklungen in einem Ingenieurskontext abspielen und da heutzutage auch Computer eine gewisse Rolle spielen, liegt es nahe, das man das Wissen halt in eine Wissensdatenbank packt, erster Schritt des Transfers.

Da droht aber in meinen Augen schon die erste Gefahr. Von ChatGPT haben wir gelernt, dass es um den Menschen geht. Ist das in der Wissensdatenbank wirklich noch Wissen? Oder ist jetzt nicht mehr eine bloße Sammlung von Informationen?

Diese Stunde der Wahrheit schlägt spätestens dann, wenn diese Informationen jetzt bei einer anderen Personen zu neuem Wissen werden sollen. Oder manchmal auch „bloß“ schon vorhandenes Wissen wieder in Bewusstsein rufen (das ist nämlich auch so eine Krux mit dem Wissen).

„Ich weiß, dass ich nicht weiß.“

– Sokrates

Dass Wissensdatenbank und deren Einsatz alles andere als trivial sind, habe ich schon vor über 15 Jahren gelernt, als es in meinem Zertifizierungsprojekt für den Six Sigma Black Belt um einen Service-Prozess im Telekommunikationsumfeld ging. Und da ging es „nur“ um das Wissen zu bereits bestehenden Produkten.

Was ich rückblickend damals auch versäumt hatte, war die Betrachtung der Nutzer (die Service-Ingenieure) in einer Doppelrolle als Kunden dieser Wissensdatenbank und Lieferanten für diese Wissensdatenbank.

Bewusst habe ich hier „auch“ geschrieben, weil diese Situation eben „auch“ im Kontext der Produktentwicklung und des Entwicklungsprozesses auftritt. Der Service war damals sogar schon weiter und hatte so eine Wissensdatenbank. Vermutlich lag das sogar an der spezifischen Situation der Service-Ingenieure, weil sie bzgl. dem Wissen um die Produkte viel stärker auf fremde Wissen angewiesen waren, weil sie ja typischerweise an der Produktentwicklung selbst gar nicht beteiligt waren, zumindest nicht in dem Umfang und der Intensität wie die Entwicklungsingenieure.

Gleichzeitig besteht im Entwicklungskontext die große Herausforderung des „Not-invented-here”-Syndroms. Da gehört es dann schon fast zum Selbstverständnis des Entwicklers das Rad nochmal neu zu erfinden (ich war selber mal einer und darf das deshalb sagen), nicht unbedingt in vollem Bewusstsein, aber eben aufgrund des latenten Nicht-Wissens, dass das sprichwörtliche Rad schon mal jemand erfunden hat.

Zu diesem Wissen (des Entwicklers) gehört auch das um die Konsequenzen von Realisierungsentscheidungen und wie diese im Gesamtkomplex bzw. -system eines Produkts und seines Umfelds (entlang des Produktlebenszykluses) wirken.

Die große Herausforderung ist also die umfängliche Nutzung des vorhandenen Wissens, oft auch nicht nur im Was und Wie, sondern auch im Warum [2], im Sinne der Konsequenzen.

Da ist es dann auch wichtig, dass die Wissensspeicher außerhalb der menschlichen Köpfe und der Umgang mit der entsprechenden Technologie so gestaltet sind, dass die Nutzer eine entsprechend förderliche Antwort auf die allgegenwärtige aber oft unbewusste Frage des persönlichen Nutzens erhalten.

Das gilt nicht nur für die Personen, die dann vorhandene Informationen für sich als Wissen nutzen. Ebenso wichtig sind die Personen, die ihr Wissen in geeigneter Form dem Speicher- und Verteilmechanismus zur Verfügung stellen. Das ganze aktuelle Thema KI im Allgemeinen und ChatGPT & Co. im Besonderen wäre nicht möglich, wenn es keine Informationen als Vorstufe zum Wissen gäbe bzw. Menschen nicht auf die ein oder andere Art Wissen geschaffen und (zumindest indirekt) zur Verfügung gestellt hätten.

An dieser Stelle (im Produktentwicklungskontext) spielt dann auch das Verständnis von Unternehmen als wissenschaffende Organisationen eine besonders wichtige Rolle und wird gleichzeitig immer noch massiv unterschätzt – auch im Lean-Kontext – wenn der Fokus „nur“ auf der Produktion, dem Service, der Supply-Chain und anderen unterstützenden Bereichen liegt.

Das ist dann auch der Punkt, an dem kaum eine substanzielle Veränderung stattfinden wird, wenn diese in ihrer Notwendigkeit bzgl. der Wettbewerbsfähigkeit von der Unternehmensleitung nicht erkannt und verstanden wird und in der Konsequenz dann daraus auch nicht abgeleitet wird, den Kontext (=Prozesse) entsprechend gestalten bzw. dessen Gestaltung anzuregen, indem die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt und die Beteiligten und Betroffenen einbezogen werden.

So wichtig die unterstützende Begleitung dieser Veränderung ist, so wichtig ist es auch, sich selbst (im Sinne der Coaching-Kata) dabei zurückzunehmen und damit entsprechendes Vertrauen in die Beteiligten zu vermitteln.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wissen
[2] Warum das Warum das Allerletzte ist

Frage: Welche Rolle spielt Wissen in Ihrem Verantwortungsbereich? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Welche Maßnahmen leiten Sie aus dieser Erkenntnis ab?

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